Meine Heimatstadt München tut sich schwer mit angemessenem Gedenken. Inzwischen gibt es drei Mahnmale für Kurt Eisner, zwei für Georg Elser, bald ein viertes zur Erinnerung an das Olympia-Attentat von 1972.
Nun will Gunter Demnig in München Steine, auf denen die Namen von NS-Opfern, ihre letzten Wohnadressen und ihr Schicksal geschrieben stehen, verlegen. Sie sollen im Straßenbild für Irritation sorgen. Der Münchner Stadtrat hatte sich 2004 dagegen entschieden. Dieser Entscheid soll nun gekippt werden.
Ist die Idee nicht bestechend, sich vom Wohlwollen von Hausbesitzern unabhängig zu machen, die keine Gedenktafeln an ihren Immobilien haben wollen? Ein Mahnmal zu schaffen, an dem sich jeder Bürger beteiligen kann? Eine Erinnerung an Ermordete, die Kommune und Land nichts kostet, weil Paten dafür aufkommen?
Pilpul Doch je mehr Zeit verstreicht, desto weniger überzeugt mich das Konzept. Ein klassischer Pilpul. Das Einerseits in der Argumentation verlangt immer auch das Mitdenken des Andererseits. Und das kam in der seit Mitte der 1990er-Jahre laufenden Debatte zu kurz. Statt Argumente des Für und Wider abzuwägen, ging es immer mehr um Emotionen. Gefühle kann man niemandem absprechen. Schon gar nicht im Zusammenhang mit menschlichem Leid und aufrichtiger Empathie. Doch sie sind schlechte Ratgeber. Zielführender ist ein Blick auf Fakten. Können Stolpersteine dafür stehen?
Ich meine im Rückblick auf eine rund 20-jährige Vorgeschichte: nein. Der Aktionskünstler und Urheber spricht davon, an Opfer der NS-Zeit erinnern zu wollen. Er geht von sechs Millionen aus. Wie ungenau ist sein Geschichtswissen? Diese Zahl beträfe nur die jüdischen Opfer. Was ist mit den Regimegegnern, die er doch auch im Blick hat? Mit den Homosexuellen? Den Roma und Sinti? Den politisch beziehungsweise religiös motivierten NS-Regimegegnern? Den Opfern der Euthanasie-Verbrechen? Den Asozialen (was immer die Nationalsozialisten darunter verstanden)?
Schüler Kein Problem: Jeder, der bereit ist, den Preis für einen Stein zu übernehmen, kann dabei sein. 2004 betrugen die Kosten noch 95 Euro, später 120 Euro. Tendenz steigend. Schließlich ist seit 2006 ein Berliner Bildhauer mit im Boot, die handgefertigte Produktion zu gewährleisten. Demnig sieht sich auf dem Weg, das »größte dezentrale Mahnmal der Welt« zu schaffen. Der Platz im Guinness-Buch der Rekorde wäre gesichert. Mag sein, dass sich Geschichtswerkstätten, Schülergruppen und andere Bürgerinitiativen aufrichtig um die Erforschung ihrer lokalen Geschichte bemühen. Doch wo bleibt die sachkundige Prüfung? Demnig hat diese Kompetenz nicht. Er verwaltet ein Monopol. Und da kommt Verwirrendes, Falsches, Unerträgliches zusammen.
Was besagen denn Inschriften wie »Hier wohnte Ruth Weiss, Jg. 1932« und »Ursula Weiss, Jg. 1943«, beide »Gedemütigt/ Entrechtet, Flucht in den Tod, 5.3.1943«. Stimmen die Daten, dann würde es sich um eine Elfjährige und einen Säugling handeln. Liegt ein Suizid vor, dann kann er kaum von ihnen selbst begangen worden sein. Was besagt die Floskel »Flucht in den Tod«? Und wie kann der Monopolist weiter Stolpersteine verlegen für Menschen, die gar nicht umkamen? Der Wirksamkeit halber verzichtet er dabei inzwischen auf das Wort »überlebt«. Dann endet der Text schlicht mit »Flucht«.
Sobald seine Statistik Tausend Orte mit Stolpersteinen erreicht, »werden wir bestimmt feiern«, soll er vergangenes Jahr angekündigt haben. Wer kann allen Ernstes zustimmen, dass Begriffe aus der Nazi-Terminologie und Unrechtssprechung wie »Gewohnheitsverbrecher« – selbst in Anführungszeichen gesetzt – ein NS-Opfer per Stolperstein ein weiteres Mal denunzieren? Einer, der so unsauber denkt und werkelt, dem kann man kein so wirkmächtiges Projekt anvertrauen.
Dabei verstehe ich Nachfahren und Opferpaten sowieso nicht, die für ein Gedenken im Straßentrottoir eintreten. Wurden Juden doch auf die Knie gezwungen, manchmal sogar mit bloßen Händen, die Straße zu reinigen. In Wien erinnert das – gerade wegen seiner brutalen Deutlichkeit seinerzeit heftig bekämpfte – Hrdlicka-Mahnmal daran. Wer die Kritik von Stolpersteingegnern gegen eine Erinnerung am Boden als semantische Haarspalterei abtut, übersieht, dass diese Form der Demütigung eine lange und unheilvolle Tradition hat.
Gedenken »Siehe der Stein schreit aus der Mauer« stand auf der Unterseite einer Treppenstufe, die sich bei einer Kirchensanierung als zweckentfremdeter, geschändeter jüdischer Grabstein entpuppte. Steine vom jüdischen Friedhof dienten zur Straßenbefestigung auf dem Weg zum berüchtigten Lager Plaszow, vor den Toren Krakaus. Auch hier wurde das Gedenken an Juden im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten.
Was mir besonders zu schaffen macht: In Internetforen läuft die Debatte aggressiv, anonym, populistisch. Statt Sachkenntnis zählt »Like-it«-Quote. Mit welchem Engagement man sich auf eine sowieso nicht zu bewältigende Vergangenheit konzentriert. Laut Jewish Claims Conference gibt es weltweit noch circa 500.000 Holocaust-Überlebende – von anderen Opfergruppen abgesehen. Rund 100.000 davon arm und pflegebedürftig. Besonders schwer ist das Los der in Osteuropa Beheimateten.
Wäre es nicht wichtiger – statt in Gedenksteine – in die Fürsorge für Lebende zu investieren? Für die Opfer von einst und für die Opfer unserer Tage. Und sage mir keiner, man könne das eine tun, ohne das andere zu lassen. Das geschieht ja eben nicht, jedenfalls nicht im erforderlichen Maße. Und es gibt doch nichts Gutes, außer man tut es.
Die Autorin ist Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde in München.
Lesen Sie auch das Pro Stolpersteine von Amelie Fried: www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/22879