Herr Rabbiner Brandt, wenn Sie noch ein junger Mann wären, würden Sie überlegen, sich am Schutz Ihrer Synagoge oder Ihrer Gemeinde zu beteiligen? Diese Idee haben Sie jetzt bei der Jahrestagung der Union progressiver Juden ins Gespräch gebracht. Was genau bezwecken Sie damit?
Wir haben in Frankreich gesehen, wie man versucht hat, Synagogen zu stürmen. Deshalb sollten wir alle darüber nachdenken, wie wir unsere jüngeren Leute instruieren, damit sie im Angesicht eines Angriffs reagieren und sich persönlich besser schützen könnten – im Rahmen von Recht und Gesetz. Wenn Not am Mann ist, können auch wir helfen.
Halten Sie die Situation für so dramatisch?
Mir geht es nicht um eine Panikreaktion, sondern um eine längerfristige Überlegung. Wir sollten zumindest bereit sein, zu reagieren, weil dieser neue alte Antisemitismus, den wir heute sehen, nicht über Nacht verschwinden wird. Dieses Problem wird uns auf Jahre weiter beschäftigen.
Sollen wir denn Gruppen wie die Ligue de Défense Juive in Frankreich gründen? Würde das nicht zu einer Radikalisierung in den eigenen Reihen führen?
Ich glaube, wir sind intelligent genug, um diese Gefahr zu vermeiden. Wir wollen keine bewaffneten Patrouillen einrichten – das wäre illegal. Aber wir sollten unseren jungen Leuten Kurse in Selbstverteidigung anbieten. Die Polizei kann nicht immer und überall sein, und manchmal gibt es auch Abendveranstaltungen, bei denen ein oder zwei Leute auf Wache sein sollten, um im Fall des Falles die Polizei und Feuerwehr rufen zu können. Jüngere können Ältere zu Veranstaltungen begleiten. Synagogen werden oft nachts beschmiert. Unsere jüngeren Leute können gut mit Handykameras umgehen. Sie könnten die Täter in flagranti filmen und der Polizei dadurch helfen.
Was bringt das den Freiwilligen?
Es würde ihr Selbstbewusstsein stärken. Wenn ein Mensch weiß, wie er sich auch ohne Waffen verteidigen kann, dann wird er eher standhalten als jemand, der einfach hilflos zusammengeschlagen wird, weil er sich nicht wehren kann. Allein durch eine bestimmte Körperhaltung kann man Angriffe abwehren, ohne überhaupt handgreiflich zu werden.
In Ländern wie England gibt es jetzt schon regelmäßige Wachdienste – zum Beispiel auch von Eltern in jüdischen Kindergärten und Schulen. Warum nicht auch hier in Deutschland?
Bei uns wartet man eher auf den Schupo, anstatt selbst etwas zu unternehmen. Wir verlassen uns ausschließlich auf die Ordnungskräfte und denken nicht darüber nach, was wir selbst tun könnten. Ich war Offizier in der israelischen Marine – und das hat mich geprägt. Wir dürfen uns nicht als die »armen Schafe« sehen. Wir müssen auch für uns selbst einstehen.
Mit dem ehemaligen Palmach-Kämpfer und Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz sprach Ayala Goldmann.