Annalena Baerbock, die Bundesaußenministerin, kommt bekanntlich aus dem Völkerrecht. Am Dienstag war aber nicht sie nach Den Haag gekommen, um die Bundesrepublik vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen den Vorwurf zu verteidigen, Deutschland leiste tatkräftige Beihilfe zu einem angeblichen israelischen Völkermord an den Palästinensern.
Stattdessen hatte das Auswärtige Amt fünf renommierte Juristen, darunter einen Italiener und einen Briten, gebeten, vor den 16 Richtern die Klageschrift Nicaraguas zu zerpflücken. Eine Aufgabe, die Tania von Uslar-Gleichen, Christian Tams, Samuel Wordsworth, Anne Peters und Paolo Palchetti sehr effizient erledigten. Am Ende ihres Vortrags blieb von den am Vortag präsentierten Argumenten der Klägerseite nämlich nicht viel übrig.
Die Regierung des linksautoritären Präsidenten Daniel Ortega, der seit mehr als vier Jahrzehnten mit Unterbrechungen die Geschicke Nicaraguas bestimmt, wollte Deutschland vor dem höchsten UN-Gericht vorführen und es wegen angeblich einseitiger Unterstützung Israels an den Pranger der Weltöffentlichkeit stellen. Die Klage vor dem IGH war erst am 1. März eingereicht worden. Nicaragua ging es vor allem darum, die Richter dazu zu bewegen, wie schon Ende Januar im Verfahren Südafrika v. Israel, einstweilige Anordnungen zu erlassen, um auf Israel Druck auszuüben.
Adressat der Klage Nicaraguas – und das dürfte ihre Erfolgsaussichten von vornherein schmälern – war aber nicht die Regierung in Jerusalem, sondern die Bundesregierung. Da der IGH bislang nicht über die Frage geurteilt hat, ob Israel tatsächlich gegen die Völkermordkonvention von 1948 verstößt und da Israel in Nicaraguas Klage gegen Deutschland nicht Verfahrenspartei ist, dürfte das Weltgericht sehr zurückhaltend sein und wird die Klage womöglich, wie von Deutschland beantragt, als offensichtlich unbegründet zurückweisen.
Samuel Wordsworth formulierte es so: »Der Gerichtshof ist nicht nur aufgerufen, über die staatliche Verantwortung Deutschlands zu urteilen. Er ist verpflichtet, zunächst Feststellungen zur staatlichen Verantwortung Israels zu treffen. Und Nicaragua kann sich dem nicht dadurch entziehen, dass es behauptet, der Gerichtshof könne eine Verletzung durch Deutschland auf der Grundlage eines ernsthaften Risikos einer Verletzung durch Israel feststellen.«
Die von Deutschland nach Den Haag entsandten Völkerrechtler argumentierten jedoch nicht nur formaljuristisch. Sie versuchten auch, die Argumente Nicaraguas inhaltlich zu entkräften – und gingen dabei minutiös vor. Gleich in ihrem Eingangsstatement machte Tania von Uslar-Gleichen, Beauftragte für Fragen des Völkerrechts im Auswärtigen Amt, deutlich, dass Deutschland »aus der Geschichte gelernt« habe. Gerade wegen der Schoa habe man eine besondere Verantwortung für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels und auch die internationale Rechtsordnung.
Wörtlich sagte sie: »Das Existenzrecht Israels wird weiterhin geleugnet. Es wird auch im Antrag Nicaraguas geleugnet, in dem Abschnitt, der die Massaker der Hamas vom 7. Oktober beschreibt. Den Angaben Nicaraguas zufolge richteten sich diese Angriffe gegen ›Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten von Sderot, Kfar Azza, Nir Oz und Beeri‹. Deutschland weist diese Behauptung entschieden zurück.«
Schließlich hätten die Angriffe der Hamas sich gegen Gemeinden gerichtet, die innerhalb der anerkannten Grenzen des Staates Israel und nicht in Gaza lägen. »Steht Nicaragua zu seiner Charakterisierung, dass es sich hier um ›besetzte palästinensische Gebiete‹ handelt, und bestreitet somit das Existenzrecht Israels?«, fragte sie. Deutschland werde so etwas nicht dulden. »Die internationale Gemeinschaft hat den Staat Israel als einen sicheren Zufluchtsort für das jüdische Volk gegründet, sein Existenzrecht ist international anerkannt.«
Verantwortung Deutschlands
Von Uslar-Gleichen betonte aber auch Deutschlands Verantwortung für die Sache der Palästinenser. Man habe sich immer für die Rechte des palästinensischen Volkes eingesetzt. Dies sei neben Israels Sicherheit der zweite Grundsatz, von dem sich die Bundesregierung in ihrer Nahostpolitik nicht erst seit dem 7. Oktober habe leiten lassen.
Bis heute habe Deutschland die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den palästinensischen Gebieten mit insgesamt 1,5 Milliarden Euro unterstützt. Die Bundesregierung erkenne das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung an, dieses solle »in den 1967 (von Israel) besetzten Gebieten ausgeübt werden«, sagte sie – und sparte nicht mit Kritik an Israel: »Versuche, die Zweistaatenlösung zu unterminieren, zum Beispiel durch den Ausbau illegaler Siedlungen«, habe Deutschland immer »entschieden verurteilt«.
Über die »dramatische humanitäre Lage« im Gazastreifen infolge des israelischen Militäreinsatzes gegen die Hamas sei man sehr besorgt und versuche, diese zu lindern. Deutschland sei weltweit der größte Einzelgeber von humanitärer Hilfe, mit 203,5 Millionen Euro im Jahr 2023 und bislang 51 Millionen im laufenden Jahr.
Dieses Geld werde aber nicht nur über die UNRWA, sondern auch über Organisationen wie das Welternährungsprogramm und das Rote Kreuz abgewickelt. Seit Oktober habe Deutschland seine Unterstützung verdreifacht, um die katastrophalen Bedingungen, denen die Palästinenser in Gaza ausgesetzt seien, zu lindern, betonten die für Deutschland sprechenden Juristen in ihrem Vortrag am Dienstag unisono.
Auch den Vorwurf Nicaraguas, Deutschland habe seine Ausfuhrgenehmigungen und Lieferungen von Kriegsgerät an Israel seit dem 7. Oktober »verzehnfacht«, wiesen sie zurück. Das Gegenteil sei der Fall, sagte der im schottischen Glasgow als Jura-Professor tätige Völkerrechtler Christian Tams. Zwar pflegten Deutschland und Israel eine gute Zusammenarbeit auch im Verteidigungssektor. Es gebe aber strenge Regeln für die Ausfuhr von Kriegsgerät – auch an Israel.
Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen würden »von Fall zu Fall geprüft« und fänden immer unter »Einhaltung des nationalen Rechts und der internationalen Verpflichtungen Deutschlands« statt. Seit Oktober 2023 seien auf dieser Basis lediglich vier Genehmigungen für die Ausfuhr von Kriegswaffen erteilt worden, und insgesamt sei das Volumen – Tams ließ ein Schaubild an die Wand werfen – nicht etwa gestiegen, sondern zurückgegangen.
Deutschland habe Israel weder Artilleriegeschosse noch Munition für den Krieg gegen die Hamas geliefert, sondern überwiegend Rüstungsgüter, die defensiver Natur seien. An die Richter gewandt sagte Tams: »Nahezu 80 Prozent des Exportvolumens wurden vor Ende Oktober 2023 genehmigt, also in dem Zeitraum, den der Gerichtshof als ›unmittelbaren Kontext‹ der schrecklichen Massaker der Hamas bezeichnet hat. Zu diesem Zeitpunkt und in dieser dramatischen Situation beschloss Deutschland, den anhängigen Genehmigungsanträgen Vorrang einzuräumen. Nach Oktober ist das Gesamtvolumen der Ausfuhren stark zurückgegangen.«
Dann wurde Tams noch präziser: In den vergangenen beiden Monaten habe Deutschland nur noch Linsen für Ferngläser, Klebevorrichtungen zur Wasserstoffspeicherung in U-Booten, Infrarotschutzsysteme zur Abwehr von Lenkflugkörpern sowie einen Schleifring für den Einbau in ein Radarsystem an Israel ausgeliefert. Das seien, fügte er hinzu, kaum Geräte, die für die Begehung von Kriegsverbrechen verwendet werden könnten.
Eine begrenzte Anzahl von Ausfuhranträgen würde derzeit noch geprüft – im Lichte der sich entwickelnden Situation und der möglichen Auswirkungen, die sie auf den Krieg in Gaza haben könnten, betonte er.
Ausfuhr von Kriegswaffen nach Israel gesunken
Nicaraguas Vertreter in Den Haag hatten Berlin vorgehalten, es unterstütze Israel mit Militärhilfe, die »zur Begehung schwerer Verbrechen verwendet werde, wie Panzerabwehrwaffen und Munition für Maschinengewehre«. Zwei der vier seit Oktober tatsächlich erteilten Ausfuhrlizenzen bezögen sich aber auf Übungsmunition, die gar nicht für den Kampfeinsatz geeignet sei. Nur die Ausfuhr von 3000 tragbaren Panzerabwehrwaffen könne man überhaupt, so Christian Tams, als Kriegswaffen im Sinne der Klage Nicaraguas ansehen.
Die Behauptung Nicaraguas, Deutschland unterstütze Israels Krieg gegen die Hamas mit Artilleriegeschossen oder Munition, welche im Gazastreifen zum Einsatz kämen, entbehre deshalb jedweder Grundlage.
Anne Peters, die Leiterin des Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, zerpflückte anschließend den Vorwurf einer möglichen Mittäterschaft Deutschlands. »Nicaragua hat keine Beweise für die Plausibilität dieser Elemente vorgelegt und kann dies auch nicht tun«, sagte sie.
Die Klägerin habe vor allem nicht dargelegt, wie eine der von Deutschland gelieferten Ausrüstungen zu einem angeblichen Völkermord an den Palästinensern oder zu schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht habe beitragen können. In Anbetracht der strengen deutschen Prüfstandards, bei denen genau diese Risiken geprüft würden, gebe es keinen wie auch immer gearteten Hinweis darauf.
Zudem stehe Deutschland mit Israel seitjeher in einem engen Austausch, in dem man auch vor kritischen Nachfragen nicht zurückschrecke. So hätten deutsche Spitzenpolitiker Israel »in aller Deutlichkeit vor den großen Gefahren gewarnt, die eine Bodenoffensive in Rafah mit sich bringen würde«, sagte Peters. Deutsche Politiker und Diplomaten hätten sich »in zahllosen Treffen« für die Öffnung weiterer Grenzübergänge nach Gaza eingesetzt. »Diese konkreten Maßnahmen sind das Herzstück der deutschen Politik«, erklärte sie.
Als vorletzter Redner trat dann der Italiener Paolo Palchetti, der an der Pariser Sorbonne tätig ist, vor die Richter. Er betonte, dass es keinen Grund für die von Nicaragua beantragte einstweilige Anordnung an Deutschland gebe, in der gefordert wird, dass Deutschland auf Israel einwirken müsse, um den behaupteten Völkermord in Gaza zu stoppen.
Deutschland habe die humanitäre Hilfe für die Palästinenser nie gestoppt oder auch nur geplant, sie auszusetzen. Entsprechende Unterstellungen der nicaraguanischen Seite nannte Palchetti »böswillig«. An den Vorsitzenden Richter gewandt sagte er: »Herr Präsident, wenn es um die Ausübung von Einfluss auf Israel geht, kann Nicaragua beruhigt sein. Wie ihm bekannt sein dürfte, haben die höchsten deutschen Staatsorgane Israel wiederholt aufgefordert, einer humanitären Pause zuzustimmen und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Eine diesbezügliche Maßnahme des Gerichtshofs ist also weder notwendig noch dringend«, so Palchetti.
»Kein Ort für Parolen«
Nicaragua habe keine glaubwürdigen Beweise dafür vorgelegt, dass Deutschland absichtlich, wissentlich oder ohne die erforderliche Sorgfalt Israel militärisch dabei unterstütze, schwere Verstöße gegen das Völkerrecht zu begehen. Das sei schon deshalb nicht möglich, weil nach deutschem Recht und der deutschen Verwaltungspraxis die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Waffen und andere Rüstungsgüter an strenge Bedingungen geknüpft sei, die weit über das hinaus gehe, was das Völkerrecht verlange.
Das Schlusswort in der gut zweistündigen Präsentation der deutschen Seite hatte dann Tania von Uslar-Gleichen. Sie nutzte es zu einem Seitenhieb an die Adresse Nicaraguas (»Diese große Halle des Rechts ist nicht der Ort für Parolen«).
Und zu einem Bekenntnis: »Wir stehen zu Israels Recht auf Sicherheit und Selbstverteidigung. Und wir bestehen darauf, dass seine Grenzen genauestens respektiert werden. Wir haben unser Möglichstes getan, um unseren politischen Einfluss geltend zu machen, damit das humanitäre Völkerrecht geachtet wird. Wir tun weiterhin unser Möglichstes, um unserer eigenen Verantwortung, die sich aus dem humanitären Völkerrecht und der Völkermordkonvention ergibt, gerecht zu werden. Wir haben unser Möglichstes getan, um der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen humanitäre Hilfe zu leisten, und wir setzen uns auch weiterhin für eine politische Lösung ein, und zwar im Wege einer ausgehandelten Zwei-Staaten-Lösung.«
Von Uslar-Gleichen zeigte sich zuversichtlich, dass das Oberste Gericht der Vereinten Nationen den Antrag Nicaraguas abweisen werde. Eine Entscheidung dazu könnte schon in den nächsten Wochen getroffen werden.