Herr Wagner, Sie standen in den letzten Tagen in der Kritik, weil Sie Omri Boehm gebeten hatten, beim zentralen Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald die Hauptrede zu halten. Warum hatten Sie ausgerechnet einen wegen seiner Aussagen zum Nahostkonflikt so umstrittenen Philosophen eingeladen?
Wir hatten uns von Herrn Boehm erhofft, dass er uns auf hohem Reflexionsniveau und ethisch fundiert Gedanken zum Verhältnis von Geschichte und Erinnerung vorträgt. Und dass er etwas sagt zum Stellenwert der universellen Menschenrechte und zu ihrer Bedeutung im Blick auf die NS-Verbrechen. Sie haben seine – am Ende nicht gehaltene – Rede vielleicht auf der Website der »Süddeutschen Zeitung« gelesen. Ich finde, das ist wirklich ein Text, der zum Diskurs anregt. Es ist eine sehr nachdenkliche, gut abwägende Rede. Genau das hatten wir uns von ihm erwartet: Wir wollten zum Nachdenken anregen.
Das ist Ihnen ja auch gelungen, aber wahrscheinlich anders als ursprünglich gedacht …
Ja. Leider Gottes herrscht gerade in Bezug auf Israel und Palästina eine völlig vergiftete Debatte. Es gibt wechselseitige Beschuldigungen. Das ist fürchterlich. Eigentlich war dieser Jahrestag als Tag der Besinnung gedacht, an dem man zur Ruhe kommen und gemeinsam nachdenken sollte darüber, was die nationalsozialistischen Verbrechen für uns heute bedeuten.
Kritiker wie Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, oder der Historiker Michael Wolffsohn haben Ihnen vorgeworfen, mit Boehms Einladung einen Fehler begangen zu haben, weil dadurch anstelle der Trauer um die Opfer in Buchenwald ganz andere Themen im Vordergrund standen. Verstehen Sie diese Kritik?
Ja. Aber ich habe auch sehr viele Rückmeldungen von Opferangehörigen und von jüdischen Menschen aus Deutschland und dem Ausland bekommen, die sehr erfreut waren zu hören, dass Omri Boehm sprechen soll. Ich denke, wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass jeder alles gut oder alles schlecht findet. Wir brauchen Diskurs.
Aber muss man eine solche Debatte ausgerechnet an einem solchen Jahrestag austragen? Oder anders gefragt: Muss man in Buchenwald über Gaza reden? Wäre es nicht besser gewesen, Boehm zu einem anderen Anlass einzuladen?
Diese Kritik muss ich zurückweisen. Wann, wenn nicht am 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Befreiung der Konzentrationslager, sollen wir darüber nachdenken, was das für uns heute bedeutet? Die Achtung der unteilbaren Menschenrechte ist doch eine ganz zentrale Lehre aus den Verbrechen der Nationalsozialisten. Hierum sollte es gehen, und das abgeleitet aus der Geschichte Buchenwalds.

Wenn jemand dazu einen substanziellen Beitrag leisten kann – und das kann Herr Boehm als international renommierter, wenn auch streitbarer Philosoph, der sich in seinen Büchern für den Humanismus und für die universellen Menschenrechte einsetzt – finde ich es gut und richtig, ihm die Gelegenheit dafür zu geben, als einem von mehreren Rednerinnen und Rednern. Denn es sollten ja von Beginn an auch noch andere sprechen und haben es auch getan, Altbundespräsident Christian Wulff etwa oder die Publizistin Marina Weisband.
Ihnen wurde vorgeworfen, Sie hätten die Buchenwald-Überlebenden, darunter den 92-jährigen Naftali Fürst, hinsichtlich der Einladung nicht einbezogen. Es sei ein Fait accompli gewesen, dass Boehm die Hauptrede halten solle.
Die Überlebenden werden immer einbezogen in die Vorbereitung der Gedenkveranstaltungen, konkret über das Internationale Komitee Buchenwald-Dora. Herr Fürst wurde leider seitens der israelischen Botschaft in diesen Konflikt hineingezogen. Das war für uns dann Anlass, die Notbremse zu ziehen und zu sagen: Wir müssen die Überlebenden schützen. Ich bin seit vielen, vielen Jahren eng mit Naftali Fürst befreundet. Er stand durch den Druck, der von der Botschaft ausgeübt wurde, vor einem Loyalitätskonflikt. Ich wollte ihn dieser Zerreißprobe zwischen Gedenkstätte und israelischer Regierung andererseits nicht aussetzen. Das geht einfach nicht.
Deswegen haben Sie Omri Boehm schließlich wieder abgesagt.
In der Situation wussten wir, dass wir die Notbremse ziehen müssen. Ich habe lange Gespräche mit Boehm geführt. Wir haben dann gemeinsam entschieden, seinen Auftritt auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, möglichst noch in diesem Jahr.
Wären Sie auch bereit, ein Streitgespräch zwischen Israels Botschafter Ron Prosor und Omri Boehm auszurichten?
Angesichts der vergifteten Atmosphäre kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Herr Boehm bereit wäre, sich mit Herrn Prosor auf eine Bühne zu setzen. Immerhin hat der ihn öffentlich mit dem Schlächter Baschar al-Assad verglichen. Das geht wirklich nicht.
Ron Prosor hat auch gegen Ihre Person hart ausgeteilt. Er hat Ihnen »Geschichtsfälschung« vorgeworfen, Sie einen Nachfahren der Täter genannt und Ihnen unterstellt, den Holocaust »in eine neue universelle Moralgeschichte zu verwandeln«.
Ich setze mich mein gesamtes Berufsleben schon gegen Geschichtsrevisionismus, Holocaust-Verharmlosung und auch Antisemitismus ein. Wenn einem dann so etwas vorgeworfen wird, ist das schon sehr verletzend.
Hat der Botschafter mit Ihnen vorab das Gespräch gesucht?
Als ich aus der Staatskanzlei in Erfurt erfuhr, dass es Kritik an der Einladung an Boehm und die Forderung gebe, dass er hier nicht sprechen solle, habe ich sofort einen sehr höflichen Brief an Botschafter Prosor geschrieben. Ich habe ihm meine Handynummer übermittelt und um ein Telefonat gebeten. Ich habe auch versucht, ihm eine Brücke zu bauen, damit wir diese schwierige Lage gemeinsam meistern können. Darauf ist er leider überhaupt nicht eingegangen.

Ist das Tischtuch zwischen Ihnen zerschnitten?
Ich hoffe mal, dass die Sache ausgestanden ist. Ich habe mich jedenfalls gefreut, dass Herr Prosor nach Ende der Gedenkveranstaltung am Sonntag, bei der eine junge Frau die Sätze »Stop the genocide in Palestine« gerufen hatte, zu mir kam und sich bei mir bedankte, dass ich eingegriffen und diese unpassenden Vergleiche zum Holocaust zurückgewiesen habe. Ich habe mich gefreut, dass er da über seinen Schatten gesprungen und auf mich zugekommen ist.
Inhaltlich besteht Ihr Dissens mit dem Botschafter aber fort?
Ja. Vielleicht muss es auch nicht immer eine Übereinstimmung geben. Dissens gehört zum Diskurs dazu. Ich hoffe, dass wir trotzdem einigermaßen miteinander auskommen werden. Und vor allen Dingen hoffe ich, dass bei künftigen Gedenktagen nicht wieder solche Debatten das Gedenken überschatten, sondern dass die Überlebenden und ihre Familienangehörigen im Mittelpunkt stehen.
Wie bewerten Sie den Vorfall bei der Gedenkfeier am Sonntag, den Sie eben erwähnt haben?
Mehrere Jugendliche, allesamt Teilnehmer des Projekts des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, verlasen am Schluss der Zeremonie kurze Erklärungen. Wir kannten diese vorab, auch wenn das kein Projekt der Gedenkstätte war, sondern des Internationalen Komitees. Die Sätze »Stop the genocide in Palestine« und »No pasaran« hatten nicht im Manuskript gestanden, sondern wurden offenbar spontan hinzugefügt. Ich bin dann ans Mikrofon getreten und habe deutlich gemacht, dass die Form von Gleichsetzung, die da insinuiert wurde, nicht akzeptabel ist. Gerade in Verbindung mit »No pasaran« hatte das eine antisemitische Aufladung. Ich hoffe, dass damit deutlich geworden ist, wo ich stehe.
Besorgt es Sie nicht, dass immer häufiger Analogien gezogen werden zwischen dem Krieg in Gaza und der Schoa, auch in Deutschland und sogar bei Gedenkfeiern wie in Buchenwald? Ist das die neue Normalität?
Ich habe immer betont und werde auch immer betonen, dass sich Gleichsetzungen dieser Art verbieten. Es gab in den 90er Jahren auch in Buchenwald große Debatten um die Gewichtung der Erinnerung an die KZ-Opfer und den Umgang mit den Opfern des sowjetischen Speziallagers II nach dem Krieg. Auch damals gab es bereits Versuche, gewissermaßen von rechts den Holocaust durch Verweise auf stalinistische Verbrechen zu relativieren. Das haben wir immer zurückgewiesen. Und genauso müssen wir als wissenschaftlich seriös arbeitende Gedenkstätte alle Versuche zurückweisen, die Präzedenzlosigkeit der Schoa durch Verweise auf andere, zum Beispiel koloniale Verbrechen infrage zu stellen, wie in der Debatte um Mbembe vor einigen Jahren geschehen.
Welchen Unterschied macht hier der 7. Oktober 2023?
Es waren schon immer schwierige Debatten. Aber seit dem 7. Oktober werden sie noch schärfer geführt. Eines muss man deutlich sagen: Wenn junge Deutsche in Berlin auf den Straßen skandieren »Free Palestine from German guilt«, ist das nichts anderes als eine linke Variante des rechtsextremen Schuldkult-Narrativs. Gegen diese Legende, mit der die Erinnerungskultur und die Arbeit der Gedenkstätten diskreditiert wird, müssen wir uns wehren. Egal, von welcher Seite sie kommt. Hier in Thüringen ist unser Hauptproblem der Geschichtsrevisionismus von rechts, der massiv durch die AfD vorgetragen wird.
Machen Sie sich Sorgen, dass die Erinnerung an die Schoa gerade bei den Jüngeren nachlässt, mit all den Folgen, die das hat?
Wir spüren gerade, dass mit zunehmendem Abstand zur NS-Zeit in der deutschen Gesellschaft das Bewusstsein dafür nachlässt, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen für unser demokratisches Selbstverständnis hat. Die AfD ist Symptom und Motor einer Entwicklung, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Dass es so gut wie keine Überlebenden mehr gibt, öffnet der Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Verbrechen Tür und Tor. Das merken wir gerade sehr stark.
Sie machen diese Arbeit ja schon länger, erst in Mittelbau-Dora, dann in Bergen Belsen, jetzt wieder in Thüringen. Ist sie schwerer geworden?
Erinnerungskultur steht immer in der Gefahr, geschichtspolitisch missbraucht zu werden. Das ist ein sehr dünnes Eis. Tatsächlich ist die Lage aber schwieriger geworden, unter anderem durch den weltweiten Rechtsruck und durch Versuche, geschichtspolitisch aktuelle politische Legenden zu legitimieren.
Was meinen Sie damit konkret?
Einige rechtsautoritäre und rechtsextreme Regierungen versuchen ziemlich schamlos, ihre Agenda geschichtspolitisch zu legitimieren. Viktor Orbán ist ein Beispiel oder auch Wladimir Putins Ukraine-Krieg. In den USA hat Donald Trump vorletzte Woche ein Dekret unterzeichnet, das »unamerikanische« Inhalte, die der Erzählung von der großartigen amerikanischen Geschichte im Wege stehen, aus amerikanischen Ausstellungen und Museen verschwinden sollen. Wir sehen solche Tendenzen auch bei der Regierung von Benjamin Netanjahu in Israel. Zur Antisemitismuskonferenz, die vor zwei Wochen in Jerusalem veranstaltet wurde, war auch die Crème de la crème der europäischen Rechtsextremen eingeladen.
Haben Sie denn kein Verständnis dafür, dass Israel und seine Regierung, vertreten durch ihren Botschafter, sich beim Schoa-Gedenken in Deutschland einmischt? Schließlich war der Holocaust ja nicht irgendein Ereignis für den jüdischen Staat …
Selbstverständlich, und das habe ich auch immer gesagt. Ich habe auch – gerade nach dem 7. Oktober 2023 – Verständnis dafür, dass manchmal die Nerven blank liegen. Trotzdem müssen wir kühlen Kopf bewahren. Das ist das, was ich vorhin meinte: Nehmen wir doch bitte das Gift aus der Debatte! Reden wir miteinander! Zumindest diejenigen, die innerhalb der Bandbreite demokratischer Vorstellungen liegen. Im demokratischen Spektrum sollte dieser Dialog möglich sein. Man sollte sich gegenseitig zuhören und nicht sofort irgendwelche Vorverurteilungen um die Ohren hauen.
Mit dem Historiker und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sprach Michael Thaidigsmann.