Deklarationen können die Welt verändern – zumindest erhoffen sich das ihre Initiatoren. Denn vielen fallen bei diesem Begriff sofort historische Meilensteine wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die berühmte Balfour-Deklaration von 1917 ein. Nun aber gibt es eine neue Deklaration, die derzeit für reichlich Diskussionsstoff sorgt, und sie trägt den Namen »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« oder einfach auch nur »Jerusalem Declaration«.
Man reagiere damit auf die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA, heißt es seitens ihrer Unterstützer. Darunter befinden sich einige wenige Historiker wie Moshe Zimmermann, Moshe Zuckermann oder Michael Wildt, aber auch der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik sowie zahlreiche Personen aus Fachgebieten, die sich eigentlich weniger mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen, darunter die Soziologin Eva Illouz und die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer. Jüdische Organisationen zählen nicht zu den Unterzeichnern.
kritik Ihre Kritik: Die IHRA-Definition sei »in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen« und habe »Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben«. Daher bedürfe es einiger Korrekturen.
Vor allem stößt den Verfassern der »Jerusalemer Erklärung« an der IHRA-Definition eines sauer auf: Sie würde »den Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und am Zionismus« verwischen, sodass »die Stimmen von Palästinser:innen und anderen, einschließlich Jüd:innen, die sehr kritische Ansichten über Israel und den Zionismus« haben, delegitimiert würden.
Das klingt nach einer drohenden Marginalisierung und der Sanktionierung von Personen, die vielleicht nur Missstände zur Sprache bringen wollen. Also müsse man handeln und Alternativen aufzeigen.
TRENNSCHÄRFE Bei genauerer Betrachtung der »Jerusalemer Erklärung« fallen jedoch Formulierungen auf, die ihrerseits gewaltig an Trennschärfe vermissen lassen, und das, obwohl die Initiatoren eine »präzisere Kerndefinition« versprechen. Das beginnt bereits in der Präambel, in der die Auffassung vertreten wird, »dass Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist«.
Eine Fortsetzung findet sich in den sogenannten Leitlinien. »Was für Rassismus im Allgemeinen gilt, gilt im Besonderen auch für Antisemitismus«, heißt es beispielsweise schon im Punkt 1. Dass es sich beim Antisemitismus aber um eine eigene Kategorie handelt und der moderne Judenhass eben ein höchst komplexes, weil wandlungsfähiges, Phänomen ist, verschwindet auf diese Weise hinter einer Nebelwand aus Schlagworten.
»Die Verfasser der Deklaration erwähnen in ihrer Anti-Antisemitismus-Definition unter anderem, Judenhass sei eine Variante des Rassismus, die Vorurteile gegenüber Juden akkumuliere, den Hebräern ein schlechtes Wesen und eine geheime Macht über die globalen Ereignisse zuschreibe«, lautete dazu die Einschätzung von Rafael Seligmann im Magazin »Cicero«. »Zudem werden Angriffe gegen Juden und ihre Einrichtungen erwähnt. Das ist insgesamt recht sparsam«, so der Politikwissenschaftler und Schriftsteller.
Es geht ihnen weniger um Antisemitismus als um einen anderen Umgang mit der Boykottbewegung BDS.
Auch der Journalist Alan Posener monierte die seiner Meinung nach etwas dürftige Definition des Begriffs. »Der Antisemitismus kann Rassismus sein«, schrieb er in der »Welt«. »Aber er ist mehr: eine kulturelle Konstante, die sich christlich und antichristlich, islamisch und antiislamisch, wissenschaftlich, ja sogar aufklärerisch, und kulturkritisch, rechts und links einkleiden kann. Wer das verkennt, kann nicht behaupten, den aktuellen Stand der Antisemitismusforschung zu vertreten.«
MANTRA Im Mittelpunkt der »Jerusalemer Erklärung« steht eigentlich etwas ganz anderes, und zwar die Einschätzung, ab wann Einstellungen zum Themenkomplex Israel und Palästina antisemitisch zu nennen sind und welche »nicht per se antisemitisch« seien.
Dieses Auseinanderdividieren nimmt den allermeisten Raum ein, weil es den Autoren der »Jerusalemer Erklärung« vor allem darum geht, »Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren«. Damit offenbart sich auch die eigentliche Stoßrichtung der Deklaration: Es geht ihnen weniger um Antisemitismus als um einen anderen Umgang mit der Boykottbewegung BDS. Diese sei eben »nicht per se antisemitisch«, so ihr Mantra.
Gleiches gilt für die »faktenbasierte Kritik an Israel als Staat«. Was damit gemeint ist, lässt im Zeitalter von Fake News oder »alternativen Fakten« zu viel Platz für Interpretationen zu. Aber sogar für die Region »zwischen dem Fluss und dem Meer« eine Neuregelung zu fordern, die auf die Abschaffung des jetzigen Staates Israels hinausläuft, wäre laut der Erklärung »nicht per se antisemitisch«.
Folgt man dieser Logik, ist sogar der berühmt-berüchtigte anti-israelische Schlachtruf »Palestine will be free – from the river to the sea« geradezu koscher. Und es ist genau diese Formel »nicht per se antisemitisch«, die in den Leitlinien die Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren aufzeigen soll, aber eigentlich mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten gibt. Denn die Deklaration ist vieles, nur eines nicht: präzise und wissenschaftlich.