Manche Damen halten sich eine Zwergbulldogge. Manche Damen tragen ein Monokel. Manche Damen besuchen Verbrecherkeller. Und manche Damen legen sich eine exotische Religion zu», schrieb «Rumpelstilzchen», mit bürgerlichem Namen Adolf Stein, der berühmte deutschnationale Kolumnist des Berliner Lokalanzeigers. Über Krishnamurti sei man inzwischen hinaus in der Reichshauptstadt, und auch über die Buddhisten, die ihren Tempel im Villenvorort Frohnau besuchten. Aber, schloss Rumpelstilzchen: «Am modernsten und schicksten ist zurzeit in Berlin-West der Islam.»
Als die Gestapo-Männer im Herbst 1943 in die Praxis des ägyptischen Arztes in Charlottenburg hineinpolterten, sahen sie am Eingang eine muslimische junge Frau. Sie saß an der Rezeption und sortierte Blut- und Urinproben. Volles Gesicht, kluge Augen («friedevolle Messiasaugen», hätte bei Rumpelstilzchen gestanden), helle Haut.
kopftuch Ihre dunklen Locken wurden von einem Kopftuch aus dünnem Stoff zusammengehalten. Wenn sie lächelte, bildeten sich Grübchen. Das geschah recht oft, selbst als nun die Gestapo-Männer auf sie zukamen. «Sie strahlte Energie und Gesundheit aus», so haben manche sie später beschrieben.
Groß sei sie gewesen, hübsch. Andere taten sich schwer mit einer Beschreibung. Orientalisch. Südländisch. Kopftuch. Was soll man sagen? Gut angepasst sei die junge Frau eben gewesen, das auf jeden Fall. Dieses Kompliment, das jemand für die muslimische Assistentin des Arztes Dr. Mohammed Helmy fand, war sogar treffender, als die meisten ahnten. Als die Gestapo-Männer ihre Kommandos bellten – den Chef sprechen, sofort! –, bat die junge Frau, doch Platz zu nehmen und einen Moment zu warten. Der Herr Doktor werde gleich für sie da sein, selbstverständlich. Man helfe gern, man wisse, was sich gehöre.
Sie sprach, wie er, akzentfrei Deutsch. Sie trug den arabischen, aber auch für Deutsche leicht auszusprechenden Namen Nadja. Und wenn jemand fragte, woher sie komme, dann erklärte sie: Der Herr Doktor und sie seien verwandt. Sie sei die Nichte.
Die Gestapo-Männer zogen an Schubladen und Schranktüren. Sie rumpelten misstrauisch ins Patienten-Wartezimmer, zogen Vorhänge zur Seite. Vielleicht schnauzten sie jemanden an, er solle seine Papiere herzeigen – und Nadja, für alle sichtbar, half, stets mit einigen Metern Abstand, stets im Hintergrund, wie es von ihr erwartet wurde, unaufdringlich und leise.
versteck Schon seit zwei Jahren rollten die Züge in die Vernichtungslager. Mit einem Marsch der Schande hatte es in Berlin begonnen, an einem beißend kalten Herbsttag, dem 18. Oktober 1941. Damals waren Hunderte jüdischer Männer durch die Straßen von Moabit, Charlottenburg und Halensee getrieben worden, bei strömendem Regen, zum Bahnhof Grunewald.
Nun suchte die Gestapo nach Untergetauchten, die zurückgeblieben waren. Tausende Juden lebten noch versteckt in Berlin, viele irrten ohne festes Obdach umher, schliefen im Freien, unter Brückenbögen oder in den Wäldern. Manche fuhren bis Betriebsschluss in der S-Bahn herum und suchten dann die Wartesäle oder Toilettenräume der Bahnhöfe auf, um zu schlafen, manche hatten noch originellere Verstecke.
Es war nicht das erste Mal, dass die Gestapo-Schnüffler in dieser Arztpraxis in Charlottenburg aufkreuzten und verlangten, den muslimischen Arzt zu sprechen, und es war auch nicht das erste Mal, dass sie sich mit Nachdruck nach einem ganz bestimmten jüdischen Mädchen erkundigten, das untergetaucht sei: Anna.
Herr Doktor wird sich freuen, Ihnen helfen zu können, konnte seine verschleierte muslimische Assistentin gerade noch sagen, bevor die knarzenden Dielen ankündigten, dass der Arzt sie endlich befreien würde aus diesem Gespräch. Ein dunkler, hoch aufgeschossener Ägypter war es, der aus seinem Behandlungszimmer herauskam und den Männern die Hand entgegenstreckte: Heil Hitler, meine Herren.
Araber wurden in Berlin ausgestellt wie exotische Tiere, schon 1896 in einem «Tunesischen Harem», 1927 in der «Tripolis-Schau». Auch Kairo und Palästina waren beliebte Völkerschau-Motive. «Ick bitt Ihnen, schuppsen Se doch nich so!», zitierte ein Reisender in seinem Bericht aus dem Gedrängel. Nur ein Autor der «Allgemeinen Zeitung des Judenthums» wurde auch etwas wehmütig beim Anblick der kleinen Kairo-Kulisse, dieses «orientalischen Bildes, das an so viele biblische Szenen erinnert», auch an die «glorreiche Vergangenheit und die traurige Gegenwart meines Volkes».
stiefbrüder Juden und Muslime – gerade in den turbulenten Zeiten im Berlin der 20er- und 30er-Jahre waren sie einander derart nahe, entdeckten das Verbindende, kamen gut miteinander aus. Es gab hier die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler, die als arabischer Prinz kostümiert über den Kurfürstendamm spazierte; in ihren Texten verwandelte sie sich in Yusuf, den Flötenspieler. «Die Winde spielten müde mit den Palmen noch / So dunkel war es schon um Mittag in der Wüste». Juden und Araber charakterisierte sie in ihrem Werk Hebräerland als Stiefbrüder namens Joseph und Jussuf; es gelte, das Getrennte wieder zu vereinen.
Oder Lew Nussimbaum, in Baku als Sohn eines jüdischen Ölhändlers geboren. Der Dichter nannte sich jetzt Muhammad Essad Bey, seine Bücher waren Gesprächsstoff in den Salons und Kneipen, und zu seinen Lesungen im Café Größenwahn auf dem Kurfürstendamm erschien er mit Turban, Pluderhosen und Ohrringen.
Als der erste Imam und sein Hilfs-Imam nach Berlin kamen, 1925, hatten sie anfangs zur Untermiete bei einer jüdischen Familie gelebt, den Oettingers, und unter den Gästen bei den offenen Abenden der Moschee in Wilmersdorf waren so viele Juden, dass noch 1934 Gestapo-Spitzel berichteten, in dem muslimischen Gebetshaus gebe es «Unterschlupf und Absteigequartier für Kurfürstendammjuden». Mehr noch: «Bei diesen Zusammenkünften sollen, sofern die Teilnehmer glauben, unter sich zu sein, abfällige Bemerkungen über den Nationalsozialismus und seine Führer gemacht werden.» So offen sprach man untereinander.
Den arabischen Bewohnern der Stadt – es waren Tausende – kam zugute, dass die Islampolitik der Nazis von Kalkül getrieben war. Als Hitlers führender Ideologe Alfred Rosenberg die «heftige geistige Angriffsstimmung in den islamischen Zentren» lobte, «geführt vom fanatischen Geiste Mohammeds», da hatte er gemeinsame Feinde im Sinn – Juden und Briten. Die Nazis umwarben die Muslime. Sie hofften auf ein Bündnis. Im Winter 1941 begannen die Deportationen der Berliner Juden. Araber wurden in Ruhe gelassen.
zuneigung Dass es eine jüdisch-muslimische Zuneigung gab, war grundsätzlich schon bekannt. Wie weit diese Zuneigung gehen konnte, blieb aber lange unerzählt. Erst durch neue Funde im Landesarchiv und im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes ist es jetzt offensichtlich geworden: Mitten in der Hauptstadt des Hitler-Reichs versteckten Araber von 1942 an Juden, um ihnen das Leben zu retten. Auch das Mädchen Anna. Es ist eine Geschichte, die Mut macht in diesen Zeiten des Hasses.
Die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat bis heute mehr als 25.000 mutige Männer und Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden retteten, als «Gerechte unter den Völkern» geehrt, die bekannteste dieser Geschichten handelt von dem Frankfurter Mädchen Anne Frank, das in Amsterdam von dem Ehepaar Miep und Jan Gies vor den Nazis versteckt wurde. Aber diese Geschichte ist trotzdem einzigartig. Unter den 25.000 «Gerechten unter den Völkern» ist bislang nur ein Araber: Doktor Mohammed Helmy.
Wenn heute manche Muslime in Deutschland den Eindruck haben, die Erinnerung an den Holocaust tangiere sie nicht, es gebe da keinen Berührungspunkt mit ihrer eigenen Geschichte, muslimische Migranten kämen darin nicht vor – dann beweist die Geschichte, die in diesem Buch erzählt werden soll, das Gegenteil.
dokumente Sie basiert auf historischen Dokumenten, auf Entschädigungsakten, Gestapo-Post und Diplomatenpapieren, auf den persönlichen Nachlässen von Helmy und Anna sowie auf vielen Stunden Gesprächen mit den noch lebenden Kindern und Neffen dieser beiden Hauptfiguren. Sie wirft ein Licht auf eine fast vergessene Welt: auf das alte arabische Berlin der Weimarer Zeit, das gebildet, fortschrittlich und alles andere als judenfeindlich war.
Wenn heute manche Juden in Deutschland den Eindruck haben, dass Gegenden mit besonders vielen muslimischen Bewohnern für sie zu No-go-Areas geworden sind, in denen man sich nicht mehr gefahrlos bewegen kann – dann sind die wahren Begebenheiten, die hier erzählt werden sollen, kein Trost. Aber sie beinhalten immerhin die Hoffnung, dass die Dinge wieder anders werden können. Die Geschichte der Muslime in Europa ist älter und facettenreicher, als es oft erscheint.
mut Von den 30er-Jahren an dienten sich unter den Berliner Muslimen manche den Nazis an, manche stellten sich in den Dienst des Regimes, halfen mit bei dessen judenfeindlicher Politik und Propaganda oder übersetzten Mein Kampf ins Arabische. Aber eine nicht unbedeutende Gruppe unter ihnen bildete auch einen ganz besonderen Teil des deutschen Widerstands gegen die Judenverfolgung. Von ihr, von ihnen und von ihrem Mut handelt dieses Buch.
Anna war «nicht der Mensch, der über seinen Kummer spricht», wie sie später einmal sagte. Ein verschlossenes Kind. Der Name Nadja war eine Idee von Helmy gewesen; fast war es wie bei einer Adoption. Vielleicht nennst du dich auch selbst so, in deinem Kopf, hatte er ihr vorgeschlagen, bevor sie zum ersten Mal ein Kopftuch über ihre Haare legte – dann verplapperst du dich nicht. Der neue Name bedeutete «Morgentau» auf Persisch. «Ruferin» auf Arabisch. Anna fand ihn schön.
Den Text «Nahost-Berlin» entnehmen wir dem Buch «Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin» von Ronen Steinke, das am 1. August im Berlin Verlag erscheint. Der Autor ist Redakteur der «Süddeutschen Zeitung». Zuletzt erschien 2013 seine Biografie «Fritz Bauer. Oder Auschwitz vor Gericht», die verfilmt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck.