Essen

Symbolhafte Reise

Einen Schritt nach dem anderen. Langsam und mit Bedacht steigt Naftali Fürst die Stufen der Gangway hinauf. Es sind Schritte, die ihn auf eine Reise führen, die er selbst noch nicht glauben kann. Eine Reise nach Deutschland.

Eigentlich sollte es für Fürst mittlerweile nichts Besonderes mehr sein, nach Berlin, Weimar oder Karlsruhe zu reisen, denn seit vielen Jahren spricht er als Zeitzeuge vor Schülern, wird zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen oder kommt zu Gedenkveranstaltungen. Vielleicht sind es 20 Reisen, vielleicht noch viel mehr. Aber dieses Mal ist es anders.

»Manchmal«, sagt Fürst und kneift sich mit seinen Fingern leicht in die rötlichen Wangen, »muss ich mich zwicken, um zu verstehen, was passiert.«

Was passiert, – und was für den 87-Jährigen so unglaublich ist, dass er immer wieder ein wenig ungläubig den Kopf darüber schütteln muss –, ist, dass ein Schoa-Überlebender, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg schwor, nie wieder nach Deutschland zu kommen, nie wieder auch ein Wort Deutsch zu sprechen, nun in einem Airbus der Luftwaffe sitzt, auf dem Weg nach Essen, um als Ehrengast die Fotoausstellung Survivors: Faces of Life After the Holocaust von Martin Schoeller zu eröffnen.

FOTOS Schoeller hat zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz 75 teils hochbetagte Schoa-Überlebende in Israel besucht und sie in Nahaufnahmen fotografiert.

Er lässt ihre Gesichter erzählen, von den Todesängsten, den durchweinten Nächten und Tagen, den erzwungenen Abschieden und von vielem Erlittenen, worüber die meisten bis heute nur schwer sprechen können. Oft dauerte es Jahre, bis sie sich anderen Menschen gegenüber öffnen konnten.

»Meine Kindheit endete mit sechs Jahren.«Naftali Fürst

Auch Naftali Fürsts Bild ist in der Ausstellung zu sehen. Er lächelt ein ganz klein wenig darauf. Seine blauen Augen ruhen im Gesicht. Er hat einen festen Blick mit ernsten Augenbrauen. Zwei tiefe Falten von der Nase bis zum Mund. Die Haare sind schneeweiß. Es ist ein schönes Bild.

Nur Naftali gefällt es nicht. »Man sieht doch alle meine Flecken«, beklagt er sich nicht ganz ernst gemeint.

Entstanden ist die Aufnahme in Haifa. In dem Moment, in dem Martin Schoeller Naftali vor die Kamera bat – einen »Kasten«, wie Fürst das Setting bei den Fotoaufnahmen nennt –, dachte er an die Mitglieder seiner Familie, die in der Schoa ermordet wurden. »Ich habe so fest an sie gedacht, dass ich mir vorgestellt habe: Wenn man in meine Augen blickt, sind sie zu sehen.«

DEPORTATION Naftali Fürsts Familie wohnte in Bratislava. 1932 kam er dort zur Welt. Seine Kindheit, wird er später in Essen sagen, endete mit sechs Jahren.

Es begann eine Zeit des Versteckens und des Bangens: In welche Wohnung konnte die Familie ziehen, um nicht entdeckt zu werden, die ständige Frage, wer helfen könnte.

In der Hoffnung, der Deportation zu entgehen, entschloss sich die Familie 1942, sich in das gut 55 Kilometer entfernte Arbeitslager Sered umsiedeln zu lassen. Dorthin wurde sie unter der falschen Vorgabe gelockt, Schutz zu erhalten. 1944 dann die Flucht in das von der deutschen Wehrmacht besetzte Pieštany. Dort wurden sie nach kurzer Zeit verhaftet und nach Sered zurückgeschickt, das inzwischen in ein Konzentrationslager umgewandelt worden war.

Die Kälte kann er heute noch nicht mit Wörtern beschreiben.

Im November 1944 wurde die Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Januar 1945 musste Naftali Fürst vom Konzentrationslager Budy aus den »Todesmarsch« nach Buchenwald antreten. Dort kam er am 23. Januar an. Die Kälte kann er heute noch nicht mit Wörtern beschreiben.

»Ich habe mich erst gestern erinnert, wie ich auf dem ›Todesmarsch‹ einen Moment lang keine Kraft mehr hatte weiterzugehen. Ich wollte nach den Wagen greifen, die an uns vorbeifuhren. Aber das ging nicht.«

»Und jetzt sitze ich in diesem Flugzeug, fliege mit meiner Familie von Israel nach Deutschland und treffe Angela Merkel.« Immer wieder sagt Fürst diesen Satz. Als ob er ihn sich so lange sagen müsste, bis er ihn selbst glaubt. Die Ärmel seines blauen Hemdes hat er hochgekrempelt. Er trägt eine bequeme Hose. Erst später wird er sich einen Anzug anziehen, ein blaues Hemd mit einer blau-orange gestreiften Krawatte tragen. Fast ein anderer Naftali Fürst.

MENSCH Und dann ist es soweit. In der Halle der Zeche Zollverein sitzen Naftali Fürst und Angela Merkel nebeneinander. Aufgeregt, sagt er vor der Begegnung mit der Bundeskanzlerin, sei er nicht: »Ich habe bereits viele Regierungschefs getroffen. Sie ist ein Mensch. Und sie ist sehr bodenständig.«

Fürst will ihr vor allem Danke sagen. Für die Einladung, für die Zusammenarbeit mit Yad Vashem, für ihre Politik und für die Dinge, für die sie sich einsetzt. »Sie ist«, sagt Fürst und wechselt ins Hebräische »Adam hanachon, besman ha-nachon« – die richtige Person zur richtigen Zeit.

Er hat ihr ein kleines Geschenk mitgebracht. Sein Buch Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens, das von der Rettung seiner Familie erzählt. »Für Angela Merkel, Bundeskanzlerin, in Hochachtung und Wertschätzung zur Erinnerung. N. Fürst«, lautete die Widmung.

»Ich werde die Tränen meiner Eltern und meines Bruders nicht vergessen.«

Ob sich Fürst wohl immer noch zwicken möchte? Jetzt, umringt von seiner Familie, von Öffentlichkeit und Politikern? Festen Schrittes betritt er die Bühne und wird sie nur wenige Momente später unter stehenden Ovationen verlassen.

Das, was die Menschen gehört haben, sind die Tatsachen hinter den Gesichtern. Kinder, wie Naftali Fürst, ohne Kindheit. Er sagt Sätze wie: »Ich lebe im Schatten der Schoa.« und: »Ich werde die Angst, den Hunger, die Kälte und die Tränen meiner Eltern und meines Bruders nicht vergessen.«

TOCHTER Oft habe er von seinem Bruder Schmuel erzählt, sagt Ronit Fürst, Naftalis Tochter. »Wenn wir nachts unterwegs waren und in der ferne Lichter gesehen haben, dann sagte er oft, dass es so war, als Schmuel und er auf dem Todesmarsch waren und sie in der Ferne Licht sahen.« Ihr Vater habe das Wort Todesmarsch nie in den Mund genommen, als Ronit Kind war, nie. Und es dauerte lange, bis er sich öffnen konnte.

Erst vor etwa 15 Jahren habe er angefangen, seine Geschichte zu erzählen, erinnert sich Ronit. Zu der Zeit, als Naftali zusammen mit seinem Bruder begann, alles aufzuschreiben. »Mein Vater hatte mit Tova, die heute nicht hier ist, eine neue Lebenspartnerin gefunden, und das könne ihm auch geholfen haben, seine Geschichte zu erzählen«, vermutet die 63-Jährige Brillendesignerin, die Naftali gemeinsam mit ihrem Mann Ehud nach Essen begleitet.

Enkel Es ist eine emotionale Reise. Ein Zeichen und eine Geste der Bundeswehr, die auch Mika, Naftali Fürsts Enkelin berührt. »Kurz vor dem Start sah ich das Eiserne Kreuz der Bundeswehr auf der Tragfläche: Das war ein seltsamer Moment«, sagt die 30-Jährige. »Vor 75 Jahren wollte man seine Familie vernichten, und heute ist er hier. Für mich ist das ein Zeichen, dass sich Menschen ändern können.«

Auch Mika ist nervös auf dieser Reise: »Mein Herz schlägt mir bis zum Hals«, sagt sie und erinnert sich, dass sie, bis sie ein Teenager war, nichts von der Geschichte ihres Großvaters wusste. »Aber später habe ich natürlich davon erfahren, und das hat mir sehr viel Kraft gegeben, zu wissen, dass mein Großvater das alles weitergeben wird.« Sein Großvater sei ein »Symbol des Sieges, für Optimismus und Geschichte«, sagt Tom, Naftali Fürsts ältester Enkel, der ihn ebenfalls auf dieser Reise begleitet. »Das Projekt ist einfach nur wundervoll und setzt so viele Zeichen.«

Naftalis Enkelin ist sehr berührt von der Geste der Bundeswehr.

In einer Zeit, in der Antisemitismus und Ausgrenzung wieder Alltagsthemen sind und sich die Grenze des Sagbaren verschieben. »Jedes Porträt hier ist eine Mahnung an uns, für Menschlichkeit einzutreten, eine Mahnung, im Alltag eben nicht zu schweigen und wegzuschauen, wenn jemand angegriffen, gedemütigt und in seiner Würde verletzt wird«, betont Angela Merkel in ihrer Rede, in der sie auch Nafatali Fürst dafür dankt, dass er »diese symbolhafte Reise« auf sich genommen hat.

Merkel zeigte sich beeindruckt von den Bildern und den Gesichtern: »Sie haben eine Intensität, die sehr nahegeht. Die Porträtierten schauen uns direkt in die Augen, und sie sprechen durch ihre Blicke direkt zu uns.«

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Der Vorsitzende des Deutschen Freundeskreises, Kai Diekmann, appellierte in seiner Rede: »Es gibt nur einen Weg, Antisemitismus, Hass und Intoleranz zu bekämpfen. Indem wir die Erinnerung an die grausamen, unvorstellbaren Verbrechen am Leben erhalten. Niemals dürfen wir aufhören, die Geschichten der Zeitzeugen zu erzählen.«

KOPIE Zuhören, verstehen, nachdenken. Das wünscht sich Naftali Fürst. »Überall erheben die Faschisten wieder ihr Haupt. Es darf nie wieder soweit kommen.« Er blickt besorgt und zieht eine Fotokopie aus dem transparent-weißen Plastikordner, den er bei sich hat.

Es ist das Foto, das ihn wenige Tage nach der Befreiung des KZs Buchenwald zeigt. Ein Schatten seiner selbst in einer Baracke mit anderen ausgemergelten Menschen. »Ich war so krank, ich war schon fast auf der anderen Seite.« »Ein Fotograf kam uns«, erinnert sich Fürst, »und ich wusste nicht, was ich machen sollte, denn im Lager konnte jede Entscheidung falsch sein.« Also entschloss er sich, nicht in die Kamera zu schauen. Auch deswegen ist das Foto, das Martin Schoeller aufgenommen hat, so besonders.

»Weinen war Luxus«, sagt Fürst. Denn als Kind weine man nur, wenn man von seinen Eltern Hilfe erhoffe oder getröstet werden wolle. »Wir konnten das nicht. Zu wem hätten wir weinen sollen?«Naftali Fürst

Viele Überlebende gibt es nicht mehr. Und die wenigen, die das Reisen auf sich nehmen, – wie Naftali Fürst –, hadern mit jedem Tag, an dem sie jungen Menschen nicht vermitteln können, wie schlimm und undenkbar die Leiden waren. Wie quälend die Fragen, wer hat überlebt, wer nicht. Und dass die psychologischen Folgen Jahrzehnte überdauert haben und es immer noch tun. Heute kann Naftali Fürst weinen. »Ich bin sogar sehr leicht zum Weinen zu bringen. Besonders, wenn ich wie jetzt, mit meiner Familie unterwegs bin«, sagt er.

Weinen Früher konnte er das nicht. »Weinen war Luxus«, sagt Fürst. Denn als Kind weine man nur, wenn man von seinen Eltern Hilfe erhoffe oder getröstet werden wolle. »Wir konnten das nicht. Zu wem hätten wir weinen sollen?« Langes Schweigen. Keiner weiß eine Antwort. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht später auch noch weinen werde.« Die zweite Generation weine mehr als die erste.

Am Dienstag zumindest überwogen die Freude und die Ehre über diese besondere Reise. Als er nach dem Rundgang durch die Ausstellung langsam und mit Bedacht die Treppen hinabsteigt, scheint Naftali Fürst ein wenig überwältigt. Aber er lächelt. Mit direktem Blick.

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