Levana und Michael Doizon hatten mit dem Schlimmsten gerechnet – und im Januar recht behalten: Nach dem Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris war dem Ehepaar klar, dass es die richtige Entscheidung getroffen hatte, Alija zu machen und von Paris nach Netanja zu ziehen.
»Ich habe zu meinem Mann gesagt: Das hättest du sein können«, erzählt Levana einige Wochen später in ihrer neuen Heimat. Bevor sie nach Israel auswanderten, sei Michael jeden Freitag in jenem koscheren Supermarkt in der Avenue de la Porte de Vincennes einkaufen gewesen, in dem am 9. Januar, ebenfalls ein Freitag, vier Menschen getötet wurden.
pöbeleien Das Ehepaar und seine 14-jährige Tochter sind drei von mehr als 7000 Franzosen, die im vergangenen Jahr nach Israel eingewandert sind. Laut Jewish Agency sind es mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor – und das macht die Franzosen zur derzeit größten Einwanderergruppe in Israel. Die schwache Wirtschaft spielt eine Rolle, doch wie für so viele Juden in Frankreich war für Levana und Michael der zunehmende Antisemitismus der Hauptgrund: die Pöbeleien auf der Straße, die bösen Blicke, die Rempeleien in der Metro.
Die Jewish Agency rechnet in diesem Jahr mit über 10.000 Einwanderern aus Frankreich. »Hatten wir vor den Terroranschlägen rund 400 Anrufe von Interessenten aus Frankreich am Tag, sind es seit den Angriffen um die 1300«, sagt Avi Mayer, Sprecher der Jewish Agency in Jerusalem. Das heiße zwar nicht, dass tatsächlich auch alle auswandern werden. Doch das Interesse ist groß. Und die Zahlen steigen insgesamt, nicht nur in Frankreich. Israel hatte 2014 so viele Einwanderer wie seit zehn Jahren nicht mehr: Mehr als 26.000 Menschen machten Alija, ein Anstieg um 32 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Einwanderer aus Deutschland stagniert hingegen bei ungefähr 100.
Nach dem Terroranschlag von Kopenhagen zeichnet Israels Premierminister Benjamin Netanjahu erst recht ein sehr düsteres Bild vom jüdischen Leben in Europa: »Wieder wurden auf europäischem Boden Juden getötet, nur weil sie Juden waren. Es ist zu erwarten, dass diese Terrorwelle weitergeht – auch die tödlichen antisemitischen Angriffe.« Netanjahus Rat an die europäischen Juden: »Israel ist euer Zuhause. Wir rufen zur Aufnahme der Masseneinwanderer aus Europa auf und bereiten uns darauf vor.«
180 Millionen Schekel, umgerechnet knapp 41 Millionen Euro, sollen nun in ein neues Aufnahmeprogramm für Einwanderer investiert werden: für mehr Hebräischkurse, Infoveranstaltungen und Beratungsstunden.
Doch mit seiner Aufforderung zur Alija macht sich Israels Premier nicht überall beliebt. Der dänische Oberrabbiner Jair Melchior reagierte sogar enttäuscht. Terror sei kein Grund, nach Israel zu ziehen. Die Aussagen Netanjahus haben eine Debatte darüber entfacht, ob das die richtige Lösung sein kann: vor dem Terror zu fliehen. Oder ob es nicht besser wäre, dem Terror die Stirn zu bieten, standhaft zu bleiben und in das jüdische Leben und die Gemeinden in der Diaspora zu investieren.
»Israel basiert auf der Alija. Es ist daher absolut angemessen, sogar ganz natürlich, dass der Premierminister die Einwanderung fördert«, so Avi Mayer. »Wir in der Jewish Agency versuchen sicherzustellen, dass Alija freiwillig geschieht, nicht aus Angst.«
sicherheit So hat die Jewish Agency nicht nur die Zahl ihrer Mitarbeiter verdoppelt, die sich um die Einwanderer aus Frankreich kümmern. Die Organisation hat einen Nothilfefonds: Jüdische Gemeinden weltweit – außer in den USA und Kanada, die anders organisiert sind – können daraus Gelder für ihren Schutz beantragen, beispielsweise für Überwachungskameras oder Sicherheitspersonal. So will die Jewish Agency das jüdische Leben in der Diaspora schützen.
Menschen wie Levana und Michael, die zwar nicht ultraorthodox, aber doch sichtbar jüdisch leben – er mit Kippa, sie mit Kopfbedeckung und langem Rock –, haben dennoch keine Zukunft in Frankreich gesehen. Nach den heftigen Reaktionen auf die israelische Militäraktion im Gazastreifen im Sommer, den Demonstrationen und Plakaten wie »Tod den Juden«, haben die beiden ihren Termin bei der Jewish Agency vereinbart und konnten noch im selben Jahr nach Israel auswandern. Hier müssen sie nun von Neuem beginnen: Hebräisch lernen, einen neuen Job suchen, eine neue Wohnung. »Aber das macht nichts«, sagt Levana. »Denn hier sind wir in Sicherheit. Baruch Haschem.«