Eigentlich träumte der angehende Jurist Kurt Julius Riegner von einer Karriere als Schriftsteller und Publizist. Im Moment der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 war er gerade dabei, die erste Nummer seiner literarischen Zeitschrift herauszubringen. Thomas Mann hatte sich für die Publikation eingesetzt, sie sollte »Der Anfang« heißen. »Eine solche Stümperei wird es in Zukunft nicht mehr geben«, wurde Riegner im Berliner Polizeipräsidium belehrt, wo er drei Exemplare der ersten Nummer abliefern musste, wie es eine eben in Kraft getretene Bestimmung verlangte. »Geben Sie freiwillig auf, oder warten Sie, bis sich die Gestapo der Sache annimmt?«
centralverein Riegner hätte es lieber gesehen, wenn seine Zeitschrift von der Gestapo verboten worden wäre. Aber sie kam auch so nicht über die erste Nummer hinaus. Stattdessen fand der frisch gekürte Doktor der Jurisprudenz ein Tätigkeitsfeld im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Berlin. Zunächst beim Verbandsorgan C.V.-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum als verantwortlicher Redakteur für die Jugendseite des Blattes, dann im Sekretariat für Jugendangelegenheiten des Centralvereins, wo der Rabbinatsstudent Günter Friedländer sein Kollege wurde.
Anders als Friedländer, der schon seine Kindheit in jüdischen Pfadfindergruppen verbracht hatte, besaß Riegner keine praktische Erfahrung in der Jugendarbeit. Um die nachzuholen, übernahm er die vakant gewordene Leitung einer Jugendgruppe im »Ring – Bund deutsch-jüdischer Jugend«. Hier waren 13- bis 17-jährige Pfadfinder aus Berlin organisiert. Vertrauensperson der Mädchen wurde die 21-jährige Leonie Strohmberg, Riegners Verlobte.
Der andere Grund, weshalb Riegner selbst in die Jugendarbeit eingriff, war, dass er und Friedländer in den Mittelpunkt der jüdischen Jugendarbeit die Vorbereitung auf die Auswanderung stellen wollten. Durch die Nürnberger Gesetze in höchstem Maße alarmiert, begannen Riegner und Friedländer, mit den Jugendlichen offen über Emigration zu reden. Bei den Pfadfindern stießen sie damit auf offene Ohren.
In den Reihen der Eltern aber lösten sie empörte Reaktionen aus: Die Ring-Betreuer hörten sich an wie Zionisten und redeten ihren Kindern ein, in ein Land auszuwandern, das irgendwo am anderen Ende der Welt lag. Auch auf der Leitungsebene des Jugendbunds regte sich Widerstand. Man verwies auf das bereits angelaufene Projekt in Groß-Breesen in Schlesien, wo der Jugendbund ein nicht-zionistisches, landwirtschaftliches Ausbildungsgut ins Leben gerufen hatte, in dem jüdische Jungen und Mädchen auf die Emigration vorbereitet werden sollten.
illegal Aber für Riegner und Friedländer war es undenkbar, die über Jahre gewachsene Ring-Gemeinschaft auseinanderbrechen zu lassen. Außerdem war das Ausbildungsgut in Groß-Breesen ein bäuerliches Projekt. Bei ihnen im Ring waren Großstadtkinder, die städtische Berufe ergreifen wollten. Riegner und Friedländer schwebte von Anfang an die gemeinschaftliche Auswanderung der ganzen Gruppe vor. Sie ließen es auf einen Streit mit dem Jugendbund ankommen und drohten sogar damit, den Ring aus ihm herauszulösen.
Ihre Posten im Centralverein als Sekretäre für Jugendangelegenheiten hatten sie während des schwelenden Streits bereits verloren. Dass sie ihre Arbeit im Ring trotzdem fortsetzen konnten, lag daran, dass vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung im Land ein interner Richtungsstreit des Jugendbunds jegliche Bedeutung verlor. Ende 1936 musste zunächst das Attribut »deutsch« im Namen »Bund der deutsch-jüdischen Jugend« entfernt werden.
Als es dann zu einem generellen Verbot aller nicht-zionistischen jüdischen Organisationen durch die Nazis kam, traf das Verbot den verbliebenen Bund der jüdischen Jugend und damit – als Teil von diesem – auch den Ring. Die beiden Jugendleiter organisierten die Treffen mit den Jugendlichen heimlich weiter. Nach den jüngsten Entwicklungen im Reich wurde das Emigrationsprojekt jetzt auch vom Centralverein unterstützt. Alfred Hirschberg vom Vereinsvorstand stellte den Kontakt zwischen Riegner, Friedländer und dem europäischen Büro des Joint in Paris her. Das Mitteilungsblatt der Reichsvertretung der deutschen Juden, des Dachverbands aller jüdischen Verbände, informierte über das Emigrationsprojekt des Rings.
Um die Eltern von der Seriosität des Auswanderungsvorhabens zu überzeugen, brach Riegner im Dezember 1937 mit seiner Frau und vier Pfadfindern, die mit ihrer Berufsausbildung fertig waren, nach Argentinien auf. Die Entscheidung für das südamerikanische Land fiel erst beim Kauf der Schiffspassagen: Mit einem Erste-Klasse-Ticket ließ sich in der Berliner Filiale der französischen Reederei Chargeurs Réunis zugleich ein Visum für Argentinien erwerben. Riegner hätte als Fluchtziel auch Uruguay wählen können, das einzige andere Land, das zu diesem Zeitpunkt noch Einreisevisa an jüdische Flüchtlinge vergab. Aber Argentinien war größer. Und damit auch die Aussichten, Arbeit zu finden.
visa 19 Briefe sandte Riegner zwischen Dezember 1937 und April 1939 nach Berlin. Den ersten hatte er noch während der Überfahrt an Bord des Dampfers »Lipari« geschrieben, der nächste folgte aus Buenos Aires: »Liebe Eltern und Freunde«, begann er seine seitenlangen Erfahrungsberichte, die in Berlin von Friedländer vervielfältigt und an die Eltern der Ring-Mitglieder verteilt wurden. »Wenn ihr herkommt, trefft ihr auf geordnete Verhältnisse und Lebensbedingungen, von Eurem ersten Schritt herab von der Landungsbrücke an sind wir zu Eurer Hilfe da.«
Während Riegner in Buenos Aires alles für die Ankunft der nachkommenden Gruppen vorbereitete, leitete Friedländer das Emigrationsprojekt von Berlin aus weiter. Dabei stellte sich jetzt ein Problem: Argentinien, das wichtigste Zufluchtsland in Lateinamerika, schloss im Juli 1938 seine Grenzen für jüdische Flüchtlinge. In einem streng vertraulichen Rundbrief wurden die Botschaften in Kenntnis gesetzt, dass in ihrem eigenen Land unerwünschte oder aus ihm vertriebene Personen nicht mehr nach Argentinien einreisen dürften.
Die nächste Gruppe, die Berlin im Oktober 1938 verließ, fuhr deshalb in Friedländers Begleitung zunächst nach Triest. Der argentinische Konsul in der italienischen Hafenstadt hatte nämlich im offiziellen Stopp der Visavergabe eine einträgliche Geldquelle für sich entdeckt und vergab Visa an Juden gegen Schmiergeld. 25 Jungen und Mädchen vom Ring wurde so die Einreise in sein Land ermöglicht. Friedländer brachte die Gruppe nach Genua an Bord ihres Schiffes und kehrte selbst wieder mit dem Zug nach Deutschland zurück.
überfahrt »In meine Arbeit schleicht sich gegen meinen Willen immer wieder der Gedanke, wann wohl die Gruppe kommt, in der ich selbst mit ausreise«, schrieb er völlig erschöpft nach seiner Rückkehr aus Italien nach Berlin, wo er sich wieder mit einem Berg beinahe unlösbarer Probleme konfrontiert sah. Nach dem 9. November 1938 häuften sich die Anfragen von Eltern, die wissen wollten, wann die nächste Gruppe aufbrechen würde. Das und der drohende Krieg ließen es ratsam erscheinen, das Emigrationsprojekt schneller als ursprünglich geplant zum Abschluss zu bringen.
Als die letzte Gruppe von Jugendlichen im April 1939 am Lehrter Bahnhof in den Zug nach Paris stieg, bedeutete dies das Ende für den Berliner Ring. Dieses Mal kehrte Günter Friedländer nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern reiste mit den Jugendlichen von Paris aus nach Le Havre weiter und ging mit ihnen an Bord des Überseedampfers »Formose«. Am 25. Mai 1939 erreichte das Schiff den Hafen von Buenos Aires. Kurt Julius Riegner hatte zwischenzeitlich im Stadtzentrum eine ehemalige Privatpension angemietet. So starteten 70 Berliner Pfadfinder und Pfadfinderinnen gemeinsam mit ihren ehemaligen Gruppenleitern ihr neues Leben in Buenos Aires in einem Wohnheim, dessen Name »Ludwig Tietz« an den Chirurgen und Gründer des Reichsausschusses der jüdischen Jugendverbände erinnerte, der sich im November 1933 das Leben genommen hatte.