»Du Jude« ist eine oft gehörte Beleidigung auf Schulhöfen. Ein jüdischer Sechstklässler muss sich in NRW von einem Mitschüler anhören: »Schade, dass die Nazis nicht mehr da sind. Sonst wärst du längst vergast.« Die anwesende Lehrerin zeigte keine Reaktion. Zum Abschluss eines interreligiösen Gesprächs wurde noch vor Kurzem in einer bayerischen Grundschule einem jüdischen Schüler die Frage gestellt: »Aber mal ganz ehrlich: Wann trinkt ihr das Blut der Christenkinder?«
Antisemitismus und antijüdische Beleidigungen in all ihren Erscheinungsformen finden sich 76 Jahre nach der Schoa im Alltag von Schülerinnen und Schülern. Viele Pädagogen reagieren hilflos oder schauen und hören aus »Unsicherheit, Zeitmangel oder Furcht vor Eskalation« lieber weg, als entschieden dagegen einzuschreiten. »Es ist in Zeiten, in denen auf deutschen Schulhöfen ›Du Jude‹ als Schimpfwort verwendet wird, nötiger denn je, deutlich zu machen, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz hat«, betont der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein.
BESCHLUSS Gegen Antisemitismus auf dem Schulhof und im Unterricht wollen die zuständigen Kultusminister der Länder künftig in den Schulen entschieden vorgehen. Das hat die Kultusministerkonferenz (KMK) am vergangenen Donnerstag einmütig beschlossen. »Antisemitismus wird nicht geduldet und darf nicht ohne Folgen bleiben«, sagte die derzeit amtierende KMK-Präsidentin und brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst nach der Tagung.
Gegen Antisemitismus auf dem Schulhof und im Unterricht wollen die zuständigen Kultusminister der Länder künftig in den Schulen entschieden vorgehen.
Bei dem virtuellen Treffen haben die Fachminister der 16 Bundesländer eine zuvor ausgearbeitete gemeinsame Empfehlung des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und der Kultusministerkonferenz zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule angenommen.
Die gemeinsame 15-seitige Empfehlung richtet sich vor allem an Lehrkräfte und pädagogisches Personal aller Schularten, Schulstufen und Fächer, an Schulleitungen, Einrichtungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften sowie an die zuständigen staatlichen Institutionen. Die KMK, der Zentralrat und die Antisemitismusbeauftragten werden sich künftig gemeinsam dafür einsetzen, dass »antisemitische Vorfälle im schulischen Umfeld als solche benannt, aufgeklärt und bekämpft« und »gegenwärtiges jüdisches Leben im schulischen Rahmen thematisiert und Begegnungen mit Jüdinnen und Juden ermöglicht« werden.
RÜSTZEUG Zwar seien die Lehrkräfte in Deutschland hervorragend pädagogisch ausgebildet, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, aber es mangele an der Ausbildung, Antisemitismus zu erkennen, und an der Vermittlung des nötigen pädagogischen Instrumentariums während des Studiums, um darauf angemessen zu reagieren.
Das falsche Mittel sei, betonte Schuster, »aus Scham« oder »der Sorge um den guten Ruf der Schule« solche Vorfälle zu vertuschen oder zu verschweigen. »Wenn auf dem Schulhof ›Du Jude‹ als Schimpfwort gebraucht wird, dann erwarte ich, dann erwarten wir, dass Lehrer adäquat reagieren, dass sie aber auch vorher im Studium ein adäquates Rüstzeug mitbekommen, um darauf reagieren zu können.«
Jeder sollte Antisemitismus erkennen, benennen und auf ihn reagieren können.
»Falsche Toleranz oder gar Verständnis für Antisemitismus sind gefährlich. Antisemitismus wird dadurch normalisiert«, heißt es in der gemeinsamen Empfehlung. »Eine fehlende Intervention der Lehrkraft könnte von Schülerinnen und Schülern oder Kolleginnen und Kollegen auch als Akzeptanz oder Bestätigung gewertet werden. Daher muss stets deutlich gemacht werden, dass Antisemitismus in keiner seiner Erscheinungsformen toleriert wird.«
ELTERN KMK-Präsidentin Britta Ernst sieht mit der beschlossenen Empfehlung »alle schulischen Akteure, egal ob Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Eltern, Schülerinnen und Schüler, aber auch Institutionen der Ausbildung und Professionalisierung von Lehrkräften, Bildungsverwaltungen und Politik gefordert zu handeln. Der Umgang damit bleibt somit auch eine gesellschaftliche und politische Herausforderung für uns alle. Mit dieser Empfehlung möchten wir unseren Beitrag leisten«.
Die Empfehlung biete künftig eine Orientierung zum Umgang mit den verschiedenen Formen des Antisemitismus, beschreibe ihn in seiner Wirkung und zeige Maßnahmen der Prävention und Intervention auf. Jede und jeder Einzelne sei dabei herausgefordert, Antisemitismus zu erkennen, zu benennen und entsprechend auf ihn zu reagieren. Kinder und Jugendliche bräuchten ein Wertesystem, das ihnen Orientierung gibt. Auch die Schule sei dafür verantwortlich, dieses zu vermitteln.
Das jüdische Leben vor 1933 und dessen Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung damals sowie das Judentum in Deutschland nach 1945 bleibe noch »ohne schulische Relevanz«.
Josef Schuster lobte bei der Vorstellung der gemeinsamen Erklärung prinzipiell den heutigen Geschichtsunterricht in den Schulen, in dem der Holocaust thematisiert werde. Aber im Überblick zeige sich jedoch, dass in den Schulen Juden weitgehend nur als Schoa-Opfer wahrgenommen würden. Das jüdische Leben vor 1933 und dessen Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung damals sowie das Judentum in Deutschland nach 1945 bleibe noch »ohne schulische Relevanz«.
Es gelte zu vermitteln, dass jüdisches Leben in Deutschland viel älter ist und Juden unabhängig von ihren religiösen Vorstellungen auf die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung einen ganz erheblichen Einfluss hatten.