Der Zeitpunkt ist makaber. Genau 100 Jahre nach der Machtergreifung der Faschisten unter Diktator Benito Mussolini kommen in Italien wieder Ultrarechte an die Regierung. Mit einer Frau an der Spitze, Giorgia Meloni, die Mussolini einmal einen »guten Politiker« nannte. Mit dem Senatspräsidenten Ignazio La Russa, der Nummer zwei im Staat, der Bilder und eine Statue des »Duce« im Wohnzimmer stehen hat. Mit Spitzenfunktionären, die sich stolz Faschisten nannten.
»Äußerst besorgt« beobachten Partisanenvereinigungen, deren Gründer einst im Widerstand das Land von der Faschistendiktatur befreit hatten, die Entwicklung - und nicht nur sie.
Verdrängung Italien hat in einem Jahrhundert viel vergessen und verdrängt. Die Herrschaft der Faschisten, die an einem nasskalten Wochenende in den letzten Oktobertagen 1922 per Staatsstreich begonnen hatte, haben etliche Italiener unter Folklore und Nostalgie abgespeichert. Als wäre die Regentschaft Mussolinis, der Hitler als Beispiel diente, kein historisches Übel gewesen, sondern nur eine Epoche unter vielen.
Etwas Ähnliches wie die Nürnberger Prozesse gab es in Italien nicht.
»Wir haben mit dem Faschismus nicht abgerechnet«, kritisiert Gianfranco Miro Gori vom Partisanenverein Anpi. Etwas Ähnliches wie die Nürnberger Prozesse gab es in Italien nicht. Die faschistischen Funktionäre wurden ab 1945 in die Nachkriegsverwaltung übernommen, in die Gerichte, Polizeistuben, Behörden. Faschistische Bauten stehen noch heute. Während in Deutschland nach Kriegsende die Spuren der Nazis aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden, passieren in Rom Fußballfans auf dem Weg ins Olympiastadion einen Obelisken mit der Aufschrift »Mussolini Dux« (Mussolini Führer). An einem Bürogebäude prangt gut sichtbar ein Relief Mussolinis als Feldherr hoch zu Ross.
So inszenierte sich Mussolini selbst, heroisch wollte er auch seine Machtübernahme geschildert haben. Dabei war der sogenannte »Marsch auf Rom«, mit dem die Regentschaft der Faschisten in den Tagen vom 27. bis 30. Oktober 1922 begann, deutlich unspektakulärer.
Während in Norditalien am 27. Oktober zahlreiche faschistische Schlägertrupps lokale Verwaltungsgebäude besetzten, versammelten sich vor den Toren Roms im Regen einige Tausend Anhänger Mussolinis zum Angriff auf die Hauptstadt. Die Drohung reichte, einen Überfall gab es nie. König Viktor Emanuel III. untersagte der Armee, gegen die Faschisten vorzugehen und ernannte Mussolini zum Regierungschef.
Der Faschisten-Anführer fuhr am Morgen des 30. Oktober mit dem Nachtzug in Rom ein. Als neuer Ministerpräsident forderte er seine inzwischen Zehntausenden Anhänger im Norden und Osten von Rom auf, in die Ewige Stadt einzumarschieren. Es kam sofort zu etlichen Überfällen auf sozialistische und kommunistische Einrichtungen. Das Land wurde in eine Diktatur umgewandelt. 1924 gewann Mussolini die Wahlen haushoch, zwei Jahre später wurden andere Parteien verboten.
Schrecken Rund zwei Jahrzehnte lang herrschte der 1883 in bescheidenen Verhältnissen geborene »Duce« über das Mittelmeerland. Seine Schergen verbreiteten Angst und Schrecken; Oppositionelle, Minderheiten und Juden wurden verfolgt, ausgegrenzt und während des Zweiten Weltkriegs dann auch in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht.
Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien im Juli 1943 wurde Mussolini abgesetzt und verhaftet. Deutsche Elitetruppen befreiten den Diktator und wollten den Nazi-Verbündeten noch mal zur Herrschaft zu verhelfen. Dies scheiterte. Am 28. April 1945 wurde Mussolini auf der Flucht von Partisanen erschossen und mit dem Kopf nach unten an einer Tankstelle am Piazzale Loreto in Mailand aufgehängt.
Mit dem Tod Mussolinis endete die Verherrlichung des Faschismus in Italien nicht.
Mit dem Tod endete die Verherrlichung des Faschismus in Italien aber nicht. Das zeigt sich etwa in Mussolinis früherem Wohnort Forlì. Dort hat Domenico Morosini ein kleines Privatmuseum errichtet. Der Mann, der zur Begrüßung den rechten Arm nach oben streckt, kaufte die alte Villa Mussolinis und stopfte sie mit Fotos, Büsten, Kleidungsstücken und Andenken voll. Seine Frau führt stolz durch das weitgehend originalgetreue Gebäude; Mussolini nennt sie dabei immer nur »il Duce«, den Führer. Das Dachgeschoss haben die Morosinis zu einem »Studierzimmer« ausgebaut und an die Wände »Duce«-Sprüche gemalt. Zum Jahrestag planen sie einige Veranstaltungen auf dem Gelände.
Wallfahrt Eine halbe Autostunde entfernt werden anlässlich der 100 Jahre »Marsch auf Rom« viele Bewunderer Mussolinis in dessen Geburtsort Predappio kommen. Die Kleinstadt ist für Mussolini-Fans, Faschisten und Neonazis - aus dem In- und Ausland - ein Wallfahrtsort geworden. Am Friedhof kann die Familienkrypta mit dem Sarg des Diktators besichtigt werden, vor dem Eingang stehen Leute ganzjährig Schlange.
Zwei Umzüge finden statt: Die Partisanenverbände feiern am nächsten Freitag den Jahrestag der Befreiung des Ortes durch die Alliierten 1944, der am 28. Oktober ironischerweise auch in diese Herbsttage fällt. Zwei Tage später gedenken Nostalgiker dem »Marsch auf Rom«.
Bizarr sind die Souvenirshops an der Hauptstraße von Predappio. Dort gibt es Fahnen, T-Shirts, Babystrampler, Geschirr und andere Andenken zu kaufen, bedruckt mit faschistischen Parolen, Hakenkreuzen oder SS-Runen. Auch Hitler- und Mussolini-Statuen stehen in den Regalen.
Im Wahlkampf sagte der Senator Ignazio La Russa, dass alle Italiener »Erben des Duce« seien.
Eine ähnliche Statue hat der Senator Ignazio La Russa vor vier Jahren Reportern in seinem Wohnzimmer als Teil einer privaten Sammlung an Mussolini-Andenken gezeigt. Unlängst wurde er zum Vorsitzenden der kleineren Parlamentskammer gewählt, er besetzt damit laut Verfassung das zweithöchste Amt in der Republik. Im Wahlkampf sagte er, dass alle Italiener »Erben des Duce« seien. Er ist einer der engsten Vertrauten von Meloni bei den rechtsradikalen Fratelli d’Italia - in deren Parteiwappen eine Flamme lodert, die an das Grab Mussolinis erinnert. Meloni unterstrich erst unlängst, sie sei »stolz« darauf.
Auch ein Jahrhundert nach dem Aufstieg Mussolinis hat eine Aufarbeitung des dunklen Kapitels nicht stattgefunden. Als es jüngst Aufregung darüber gab, ob Fotos von Mussolini in den Ahnengalerien der Ministerien abgehängt werden sollten, beschwerte sich La Russa über »Cancel Culture«. Dabei beweist Italien, dass der Faschismus auch 100 Jahre nach 1922 nicht verschwindet - ganz im Gegenteil.