Redezeit

»Muslime haben Juden stets im Blick«

Herr Abdel-Samad, in Ihrem neuen Buch sagen Sie den »Untergang der islamischen Welt« voraus. Nun ist das mit Prophezeiungen immer so eine Sache. Was macht Sie so sicher, dass der Islam auf kurz oder lang untergehen wird?
In weiten Teilen der islamischen Welt ist eine Erneuerung des Denkens und eine gesellschaftliche Öffnung existenziell notwendig. In Europa etwa konnte sich die Wissenschaft erst dann frei entfalten, als man sich von religiösen Geboten emanzipierte. Sollte die islamische Welt diese geistige Revolution auch in den kommenden Jahren verschlafen, wird sie sich nicht halten können. Eine Kultur, die ihre Zukunft in der Vergangenheit sucht, ist dem Tod geweiht.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer »geregelten Insolvenz« des Islam. Wie könnte diese Erneuerung Ihrer Ansicht nach aussehen?
Die islamische Welt muss sich von den schweren Koffern trennen, die sie seit Jahrhunderten mit sich herumschleppt und die ihre Reise ins 21. Jahrhundert fundamental behindern.

Und was befindet sich in diesen Koffern?
Es steckt darin die Unantastbarkeit der Religion. Die islamische Welt muss sich von diesem Dogma der Göttlichkeit des Korans lösen. Der Koran darf nicht länger eine Art Verfassung sein, die die alltäglichen Angelegenheiten der Menschen regelt. Die politisch-juristische Seite, die nicht nur in Ländern wie Iran Richtschnur staatlichen Handelns ist, ist hauptverantwortlich für die Rückständigkeit vieler muslimischer Staaten.

Glauben Sie, dass die im Westen lebenden Muslime einen Beitrag zur Erneuerung des Islam leisten können?
Ich sehe mit großer Freude, dass im Westen insbesondere viele junge Muslima sich von patriarchalischen Strukturen lösen. Ich hoffe, dass sie ihre Vorstellungen in die islamischen Länder exportieren können. Leider beobachte ich aber auch, dass viele beispielsweise in Deutschland lebende männliche Muslime das traditionelle Denken aus der alten Heimat importieren, einfrieren und Identität nennen. Das führt, wie wir nun sehen, zu großen Problemen.

Der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein provozierte kürzlich mit der resigniert-sarkastischen Einschätzung, dass Juden, die als solche zu erkennen seien, in den Niederlanden aufgrund des muslimischen Antisemitismus keine Zukunft mehr hätten. In Schweden und in Norwegen gibt es ähnliche Probleme. Woher kommt dieser Hass auf Juden bei vielen jungen männlichen Muslimen?
Neben dem Nahostkonflikt spielen ganz sicher auch die fehlenden eigenen Perspektiven eine wichtige Rolle. Besonders unter türkischen und marokkanischen Jugendlichen, die eigentlich nicht unmittelbar vom Nahostkonflikt betroffen sind, sind starke antisemitische Tendenzen zu beobachten. Muslime haben Juden stets im Blick, weil sie sie mit ihrer ewigen Scham konfrontieren, nicht vorwärtszukommen. Israel ist auf der Weltkarte ein winzig kleiner Fleck, trotzdem hat es das Land in beachtlicher Weise zu Wohlstand, Bildung und einer funktionierenden Zivilgesellschaft gebracht und fast jeden Krieg gegen die Araber gewonnen. Dafür werden die Juden gehasst.

Bevor Sie aus Ägypten nach Deutschland kamen, waren Sie selbst ein überzeugter Antisemit und ein mehr oder weniger fanatischer Muslim. Wie wandelt sich ein Mensch mit einer solchen Einstellung zu jemandem, der von sich nun sagt, er sei vom Glauben zum Wissen konvertiert?
Das Ganze war ein langer Prozess. Ich hatte die Wahl, entweder wie bisher andere für das eigene Leid verantwortlich zu machen oder in den Spiegel zu schauen und mich zu fragen, was ich selbst ändern kann. Ich habe mich für das Letztere entschieden, weil ich mich nicht länger belügen wollte.

Fühlen Sie sich aufgrund Ihrer islamkritischen Bücher manchmal als eine Art Vorzeige-Muslim, der antimuslimische Einstellungen salonfähig macht und Leuten wie Thilo Sarrazin den Weg ebnet?
Nein, ich fühle mich keineswegs als »gebrauchter Muslim«. Wenn ich mir darüber Gedanken machen würde, wer auf welche Weise meine Bücher auslegen könnte, dürfte ich keine Zeile mehr schreiben. Und wenn nicht einmal Gott es vermag, sein Buch, den Koran, vor Missbrauch zu schützen, wie sollte es dann mir gelingen?

Sie waren bis vor Kurzem für die ARD mit Henryk M. Broder auf großer »Deutschland-Safari«. War es sehr anstrengend, mit dem Oberpolemiker über Wochen hinweg auf Achse zu sein?
(Hamed Abdel-Samad lacht) Nein, überhaupt nicht. Henryk war ganz umgänglich. Das einzig Anstrengende war, diese Sendung vor meiner Familie in Ägypten zu verheimlichen. Wenn mein Clan sehen würde, dass ich zum Beispiel den Arsch eines Hundes von einem Juden sauber gemacht habe – man würde mich wohl enthaupten.


Hamad Abdel-Samad wurde 1972 als Sohn eines sunnitischen Imams in der Nähe von Kairo geboren. Er arbeitete für die Unesco, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft in Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München (Dissertationsthema: »Bild der Juden in ägyptischen Schulbüchern«). Der 38-Jährige gilt als profilierter islamischer Intellektueller und wurde von Innenminister Thomas de Maizière in die Deutsche Islam Konferenz berufen.

Interview

»Niemand soll jetzt die Hände in Unschuld waschen«

Michel Friedman über seinen Austritt aus der CDU, die Debatte um Friedrich Merz und die Bedeutung von Glaubwürdigkeit in der Politik

von Michael Thaidigsmann  30.01.2025

Frankfurt am Main

»Antisemitische Reaktion« im Studio des Hessischen Rundfunks

Die deutsch-israelische Informatikexpertin Haya Schulmann erhebt schwere Vorwürfe gegen eine Moderatorin und die Redaktion des Hessischen Rundfunks

von Imanuel Marcus  30.01.2025 Aktualisiert

Frankfurt

»Unentschuldbares Machtspiel«: Michel Friedman tritt aus CDU aus

Friedrich Merz habe mit der Abstimmung im Bundestag die »Büchse der Pandora« geöffnet, so der Publizist

 30.01.2025

Geiselabkommen

Sorge um das Schicksal der verbliebenen deutschen Geiseln

Tut die Bundesregierung genug für ihre verschleppten Staatsbürger in Gaza? Kritiker haben daran Zweifel

von Detlef David Kauschke  30.01.2025

Studie

Wann war die AfD bei Abstimmungen wichtig?

Die AfD hat im Bundestag für eine Mehrheit des Unionsantrags für schärfere Migrationspolitik gesorgt. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Mehrheiten beschafft

 30.01.2025

Vandalismus

CDU-Geschäftsstellen in Dortmund und Lünen beschmiert

Zuvor wurde eine Schützenhalle im Sauerland besprüht. Die Taten stehen mutmaßlich im Zusammenhang mit einem Unionsantrag, der mithilfe von AfD-Stimmen im Bundestag verabschiedet wurde

 30.01.2025

Debatte

Holocaust-Überlebende Eva Umlauf: »Tun Sie es nicht, Herr Merz«

Eva Umlauf hat als kleines Mädchen das NS-Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Sie richtet einen direkten Appell an die Union, nicht mit der AfD zu stimmen

 30.01.2025

Berlin

NS-»Euthanasie«-Opfer erhalten Anerkennung durch den Bundestag

Die Nationalsozialisten ließen massenhaft Patienten und Insassen von Heil- und Pflegeanstalten sowie von »rassisch« und sozial unerwünschten Menschen ermorden

 30.01.2025

Freiburg

Jüdische Gemeinde sieht »untragbare Lage« an Albert-Ludwigs-Universität

In einem offenen Brief an Rektorin Kerstin Krieglstein heißt es, jüdische Studenten würden ausgegrenzt. Das ist offenbar nur die Spitze des Eisbergs

von Imanuel Marcus  30.01.2025