Es ist eine Binsenweisheit, dass sich Geschichte und Politik nicht voneinander trennen lassen. Prinzipiell ist dagegen auch nichts einzuwenden. In der Bundesrepublik ist die Aufarbeitung der NS-Zeit quasi Staatsdoktrin. Weiter im Osten ist die Geschichte aber eher ein Mittel der Politik.
Bisher hat die russische Führung den Jahrestag des Sieges über Nazideutschland zur eigenen Legitimation nach innen und zur Einflussnahme nach außen verwendet. Das war erfolgreich – bis man es sich durch die Annexion der Krim und die kaum verdeckte Kriegsteilnahme in der Ostukraine mit dem Westen verscherzte. Seitdem sieht es mit westlichen Gästen bei der Moskauer Siegesparade spärlich aus.
Ostukraine Dass hier der Zweite Weltkrieg instrumentalisiert wird, ist zu offensichtlich. Doch der Kreml gibt nicht auf. Diesmal soll nun der 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 dafür herhalten. Russland lud zu einer Gedenkveranstaltung in den Berliner Dom, doch auch diesmal fiel die Teilnahme deutscher Würdenträger mäßig aus. Es fällt in der Tat schwer, Russland als das Opfer einer Militäraggression wahrzunehmen, während in der Ostukraine von Russland unterstützte Separatisten und zum Teil auch reguläre russische Truppen kämpfen.
Interessant ist aber die Reaktion der ukrainischen Seite. Kiews Botschafter in Berlin protestierte gegen die Vereinnahmung und wollte eigene Gedenkveranstaltungen abhalten. Doch was für ein Narrativ soll das sein? Seit einem Jahr werden die ukrainischen Nationalisten der 30er- bis 50er-Jahre nun per Gesetz als Nationalhelden geehrt.
Ideologie Zwei Einheiten aus denselben Nationalisten aber nahmen in den Reihen der Wehrmacht am Angriff auf die Sowjetunion und später an der Partisanenbekämpfung teil.
Selbst wenn man sich nicht mit der Ideologie der damaligen ukrainischen Nationalisten und ihrer Kollaboration mit den Nazis auseinandersetzen möchte, ist die Situation doch absurd. Man sieht sich als Opfer des deutschen Überfalls und gleichzeitig in der Nachfolge der Angreifer. An keinem anderen Tag treten die Widersprüche des staatlichen ukrainischen Geschichtsnarrativs deutlicher hervor als am 22. Juni.
Für Russland und die Ukraine gilt: Schlechte Politiker machen schlechte Geschichtspolitik. Es ist ärgerlich, dass das zu diesem Gedenktag besonders auffällt.
Der Autor ist Historiker in Freiburg.