Ludwigsburg, Anfang Januar. Im Dienstgebäude der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen sind nur wenige Menschen zugange. Ihr Leiter, Oberstaatsanwalt Thomas Will, nimmt sich ausführlich Zeit für seinen Besucher. Seit gut zwei Jahren ist Will Chef der 1958 gegründeten Behörde mit dem etwas sperrigen Namen.
Zwar stand die Zentrale Stelle (ZS) in den vergangenen Jahren selten in den Schlagzeilen. Dennoch war sie regelmäßig Ausgangspunkt von Strafverfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher und ihre Gehilfen. Die Prozesse – und das war nicht immer so – endeten meist mit Schuldsprüchen.
stutthof So verurteilte im Dezember 2022 ein Gericht die heute 97-jährige Irmgard F., einst Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung. Obwohl eine Greisin auf der Anklagebank saß, fand das Jugendstrafrecht Anwendung, da F. zum Tatzeitpunkt noch keine 21 Jahre alt gewesen war.
Wie in den meisten anderen Fällen von NS-Unrecht hatten die Ermittlungen in Ludwigsburg ihren Ursprung. Thomas Will und sieben Dezernenten führen die Ermittlungsarbeit. Schon seit 2003 arbeitet er bei der ZS. Zuvor war er Staatsanwalt und Amtsrichter in Dessau. Wie alle seine Kollegen war auch Will zunächst aus dem Landesjustizdienst nach Ludwigsburg abgeordnet worden. Doch er blieb.
Wie viele Täter tatsächlich noch leben, ist nur sehr schwer herauszufinden.
Mehr als 1,7 Millionen gelbe Namenskärtchen finden sich in der Zentralkartei der ZS. Haupttäter wie der berüchtigte Auschwitz-Arzt Josef Mengele sind gleich mehrfach vertreten. Immer noch kommen neue Aktenbestände hinzu, darunter auch Personalakten ehemaliger Wachleute. Dabei wurde bereits in den 90er-Jahren über das schnelle Ende der Einrichtung nachgedacht. Doch auch acht Jahrzehnte nach den Verbrechen der Nationalsozialisten laufen die Ermittlungen weiter.
Fünf neue Fälle haben Will und sein Team vor Kurzem an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben. Sie betreffen die ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen.
Hauptgrund für die Fülle neuer Verfahren ist die veränderte Rechtsprechung in Deutschland. Zwar sind alle Verbrechen der NS-Zeit nach deutschem Recht verjährt und nicht mehr verfolgbar. Es gibt aber eine Ausnahme: Mord verjährt nicht, und auch die Beihilfe zum Mord ist weiter strafbar, unabhängig davon, wie lange die Tat zurückliegt.
BEIHILFE In den 60er-Jahren dagegen erlitten Versuche von Staatsanwälten wie Fritz Bauer, auch das einfache Personal in den Konzentrationslagern wegen Beihilfe zum vieltausendfachen Mord strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, einen Dämpfer. 1969 urteilte der Bundesgerichtshof, ein in Auschwitz eingesetzter Mann könne nicht wegen Beihilfe zum Mord belangt werden, sofern ihm nicht konkrete Tötungen nachgewiesen werden. Die Anwesenheit in einem Lager reiche allein für eine Verurteilung nicht aus, obwohl die Angeklagten Kenntnis von den Massenmorden hatten, entschieden die obersten Richter.
Das Urteil hatte gravierende Auswirkungen für die Arbeit der ZS. Gegen jedes Mitglied von SS-Wachkommandos oder der Lagerbürokratie musste fortan ein konkreter Tatnachweis erbracht werden, was nicht immer möglich und jedenfalls mit viel Ermittlungsaufwand verbunden war. Die Justiz konzentrierte sich daher auf die Haupttäter, von denen viele schon nicht mehr lebten.
Erst 40 Jahre nach dem BGH-Urteil kam wieder Bewegung in die Sache, und die Zentrale Stelle hatte plötzlich wieder alle Hände voll zu tun. 2011 verurteilte das Landgericht München II den aus den USA nach Deutschland ausgelieferten Ukrainer John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord zu einer Freiheitsstrafe, und das, obwohl er im NS-Vernichtungslager Sobibor nur untergeordneter Befehlsempfänger gewesen war. Der Richterspruch wurde zwar wegen Demjanjuks Tod nicht rechtskräftig, setzte aber in Ludwigsburg neue Impulse frei.
wachmannschaften Der Blick richtete sich von da an verstärkt auf die Wachmannschaften. 2015 erging dann ein Urteil gegen Oskar Gröning, der als SS-Mann in Auschwitz war. Gröning wurde wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, obwohl ihm keine konkrete Tötungshandlung oder Beihilfe nachgewiesen wurde. Wichtiger noch: Der Bundesgerichtshof hielt das Urteil 2016 in letzter Instanz aufrecht und setzte damit neue Maßstäbe bei der Verfolgung der Gehilfen des Massenmordes.
»Das war für uns ein Riesenschritt, der ermöglichte, was jahrzehntelang nicht möglich war, nämlich die Feststellung, dass sich auch der Gehilfe in einem Konzentrationslager, in dem systematisch getötet wurde, durch die allgemeine Dienstausübung strafbar gemacht hat«, betont Thomas Will und fügt an: »Natürlich hat er das! Was soll jemand, der dort das Lager bewacht hat und wusste, dass die Insassen alle umkommen, denn sonst sein als strafbar?« Die ZS-Ermittler beugten sich erneut über Tausende von Namen – darunter waren nicht nur KZ-Wächter, sondern auch Schreibtischtäter und -täterinnen wie Irmgard F.
Zentrales Kriterium, ob Vorermittlungen eingeleitet werden oder nicht, ist laut Will die Frage nach den Zuständen in den Lagern zum Zeitpunkt, als die Betreffenden dort eingesetzt waren. »Bei ›normalen‹ Konzentrationslagern hatten die Insassen wenigstens eine realistische Chance, nicht sofort umgebracht zu werden – zumindest, solange sie als arbeitsfähig eingestuft wurden. Aber gegen Ende des Krieges wurden aus vielen dieser Lager de facto Vernichtungslager.
Noch ist kein konkretes Ende der Ermittlungen in Sicht.
»Deswegen waren wir der Auffassung, dass die bestehende Rechtsprechung für Vernichtungslager – nämlich, dass man bei Gehilfen als Teil einer Tötungsmaschine nicht individuell die Unterstützung zum Mord nachweisen muss – auch auf Konzentrationslager anwenden sollte«, erläutert er. Bei Vernichtungslagern könne man sich nämlich nicht damit herausreden, nichts mitbekommen zu haben oder selbst nicht an Tötungen beteiligt gewesen zu sein, so der Oberstaatsanwalt.
auffassung Jetzt laute die herrschende Auffassung: »Wenn es in einem Konzentrationslager vergleichbare Zustände gab, wie sie in einem Vernichtungslager herrschten, muss dies genauso behandelt werden. Wenn in einem bestimmten Zeitraum alle in einem Konzentrationslager ankommenden Juden sofort vernichtet wurden, kann dies rechtsprechungstechnisch nicht anders gehandhabt werden als im Fall von Vernichtungslagern.« Die meisten Lager seien zu Kriegsende zu Vernichtungslagern umfunktioniert worden und eng in das NS-Vernichtungssystem integriert gewesen.
Einen Automatismus gebe es dennoch nicht. »Man kann nicht einfach sagen, diese oder jene Person war Angehörige einer Wachmannschaft und hat sich deswegen der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht. Das reicht nicht. Deswegen fingen wir an, ausführlich zu begründen, wie zum Beispiel Wachkompanien aufgebaut waren und welche Dienste in einem rotierenden System zu leisten waren. Die Konzentrationslager hatten ja alle die gleiche Lagerordnung, funktionierten in ähnlicher Art und Weise. Daher waren die Sachverhalte auch übertragbar«, betont Will.
Und er fügt an: »Wir müssen aber nachweisen, wann die betreffende Person im Lager eingesetzt war, was dort in diesem Zeitraum geschah und ob das erkennbar war. Das muss man vor Gericht ausführen.«
ZWANGSARBEIT Er erwähnt noch einen weiteren Punkt. »Die Menschen wurden in den Lagern ja nicht nur vergast oder erschossen. Sie wurden auch durch Zwangsarbeit und die Schaffung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen grausam umgebracht. Das ist ebenfalls als Beihilfe zum Mord strafbar. Die Nazis redeten sich zwar damit heraus, man habe die Häftlinge in den Konzentrationslagern zu Kriegsende gar nicht mehr richtig versorgen können. Aber das stimmt ja nicht. Man wollte sie nicht mehr versorgen.«
Die Ermittler haben mittlerweile einen guten Überblick über das riesige Lagerwesen der Nationalsozialisten. So können sie Vorgänge abgleichen mit den Zeiträumen, in denen Wachleute vor Ort im Einsatz waren.
Mit Voraussagen, wie viele Fälle angesichts des hohen Alters der Betroffenen noch vor Gericht kommen könnten, hält sich Thomas Will absichtlich zurück: »Ich kann nicht in die Glaskugel schauen.« Theoretisch kämen aber immer noch Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen für eine Strafverfolgung in Betracht. Besonders die Kohorte der heute 95- bis 100-Jährigen haben Will und seine Ermittler im Blick.
Mehr als 1,7 Millonen Namenskärtchen finden sich in der Zentralkartei.
Wie viele Täter tatsächlich noch leben, ist schwer abzuschätzen. Es ist wie eine Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Zentrale Stelle stützt sich auf Anfragen an die Einwohnermeldeämter, auf Auskünfte der Rentenversicherung und auf andere Hinweise, auch wenn Will betont, dass die Zeit der direkten Hinweisgeber vorbei sei. Die Zentrale Stelle steht auch im engen Austausch mit KZ-Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen und schaut, ob dort noch Dokumente und Namen vorliegen, die bislang nicht bekannt sind.
»Es gibt im Falle einzelner Konzentrationslager immer noch 50 oder 100 Leute, bei denen wir die Personaldaten kennen, die Betreffenden aber noch nicht ausfindig gemacht haben. Und bei den Nebenlagern und den Kriegsgefangenenlagern sind wir noch gar nicht so weit. Es kann also sein, dass wir zehn Betroffene finden, die noch leben, aber auch, dass wir gar keinen mehr finden«, erklärt Will. Für den Fall, dass jemand als lebend ermittelt werde, gebe man das Ermittlungsverfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft ab. Bis zu einer Anklageerhebung vergeht in der Regel aber noch einige Zeit, und bis zu rechtskräftigen Urteilen sehr viel mehr. Oft sind die Täter nicht mehr verhandlungsfähig oder versterben vor dem Richterspruch.
NaCHKRIEGSJUSTIZ Will bedauert, dass nur wenige der in seiner Kartei enthaltenen Personen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden konnten. Dennoch will der Chefermittler der deutschen Nachkriegsjustiz kein pauschales Versagen attestieren.
Ein Urteil dazu überlässt er lieber den Historikern: »Die Justiz operiert immer in der Gesellschaft, in der sie sich bewegt; sie bildet sich aus dieser Gesellschaft. In der Nachkriegszeit haben Staatsanwälte den Männern, die beispielsweise Exekutionen durchführten, pauschal zugebilligt, dass sie sich in einem Putativnotstand befanden, also irrtümlich glaubten, im Fall der Befehlsverweigerung selbst mit schweren Nachteilen rechnen zu müssen. Heute spielt dieser Ansatz keine Rolle mehr, und ich kann nur sagen: Das ist gut so, denn einen Befehlsnotstand gab es nicht.«
Es gibt vereinzelt auch Kritik an der Arbeit der Ludwigsburger Stelle, und sie kommt aus allen Richtungen.
Es gibt vereinzelt auch Kritik an der Arbeit der Ludwigsburger Stelle, und sie kommt aus allen Richtungen. Thomas Will meint dazu: »Die einen sagen, warum macht ihr das jetzt erst, und die anderen sagen, wieso macht ihr das überhaupt noch. Beiden Seiten kann ich im Grunde nur dasselbe sagen: Wir haben gar kein Ermessen, es geht um ein Offizialdelikt, das nicht verjährt. Und es gibt auch kein Alter, in dem man plötzlich straffrei wird oder nicht mehr verfolgt werden kann. Entscheidend ist letztendlich nur, ob die Betreffenden noch verhandlungsfähig sind.«
Ein konkretes Ende der Arbeit ist also noch nicht in Sicht. Dennoch gibt es schon konkrete Pläne für die Zeit nach der letzten Ermittlung: Aus der Ermittlungsbehörde soll ein »Lernort für den Rechtsstaat« werden. Bereits im Jahr 2000 wurde in dem Gebäude eine Außenstelle des Bundesarchivs eingerichtet, die nach und nach die Ermittlungsakten der Zentralen Stelle übernimmt. Sie sind auf Antrag Historikern und auch Familienforschern zugänglich. Thomas Will ist sich sicher: »Unsere Akten sind ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Nachkriegsgedächtnisses.«