Im Mittelalter fing wohl die militärische Nutzung von ausgebildeten Selbstmordattentätern an, als mit der Sekte der Nizariten eine schiitische Splittergruppe ihre religiöse Eigenständigkeit und Lebensart gegenüber der mächtigen sunnitischen Orthodoxie militant zu verteidigen suchte. Der militärisch überlegenen türkischen Großmacht begegneten die Assassinen mit einer verdeckten Kriegsführung. Begründet wurde ihr Bund von Hassan Bin al-Sabbah (um 1048–1124), der 1090 die in der nordpersischen Bergwelt gelegene Festung Alamut zum geografischen Zentrum seiner Widerstandsbewegung machte. Um 1103 entsandte der »Herr von Alamut« Gefolgsleute nach Syrien, die dort die gleiche Strategie wie in Persien verfolgten: eindringen, verschanzen, angreifen. Das syrische Oberhaupt der Assassinen war der Scheich al-Dschebel, für die Kreuzfahrer »der Alte vom Berge«.
einfluss Spätere Großmeister erweiterten den Einflussbereich der Sekte, die auf ihrem Höhepunkt zwischen 40.000 und 60.000 Anhänger gehabt haben soll. Ein von der Bergwelt des Libanon bis zur persisch-afghanischen Grenze reichendes Netz von Fluchtburgen wurde durch zahlreiche Propagandazentren und einen hervorragend funktionierenden Nachrichtendienst ergänzt. Offene Feldschlachten vermieden die Strategen der Sekte, sie setzten vielmehr auf kleine Überraschungsangriffe. Die Assassinen, so der renommierte Arabist Bernard Lewis, waren die erste islamische Gruppierung, »die geplant, langfristig und systematisch den Terror als Waffe einsetzte«.
Die politische Lieblingswaffe der Assassinen-Großmeister war der Mord. Durch Tausende »Morde als spezielle Art der Kriegsführung« wurde die etablierte sunnitisch-muslimische Welt über 150 Jahre in Angst und Schrecken versetzt. In Persien brachen 1256 die Mongolen, in Syrien 1270 die Mamelucken des Sultans Baibar die Macht der »Mördersekte«. Endlos ist jedoch die Liste asketischer Attentäter, denen der Mord als heiliger Akt galt und die eigene Enttarnung und folgende Hinrichtung als erstrebenswerter Märtyrer-Tod. Somit wurden diese »heiligen Terroristen« des Mittelalters zu den Ahnherren der Waffengattung Mord durch Märtyrer.
revolution Dieser Märtyrer-Gedanke wurde 700 Jahre später im schiitischen Gottesstaat Iran im Krieg gegen den sunnitischen Feind Irak wiederbelebt. Im September 1980 hatte der waffentechnisch überlegene Irak die benachbarte Islamische Republik angegriffen. Teheran rief daraufhin zum Djihad und zur Islamischen Revolution gegen die »gottlose« Regierung in Bagdad auf und setzte in der militärischen Landesverteidigung auf das Märtyrertum. Mit den »Wächtern der Revolution« (Pasdaran) hatte der Iran Glaubenskämpfer, die eigens für den Opfertod ausgebildet worden waren. Der selbstmörderische Kriegerkult führte zu Erfolgen, die Militärstrategen in West und Ost für unmöglich gehalten hatten. Als die Konfliktparteien im August 1988 einen Waffenstillstand schlossen, hatten nach westlichen Quellen rund 100.000 Menschen auf irakischer Seite den Tod und um die 300.000 Menschen auf iranischer Seite den Opfertod gefunden.
Trainingslager 1984, mitten in diesem ersten Golfkrieg, hatte sich der Verdacht erhärtet, die Regierung des Gottesstaates würde den Märtyrer-Kult gezielt dazu benutzen, um eine weit gefächerte Terrororgani- sation aufzubauen. In einem Lager nicht weit der Kleinstadt Dezful, nahe der irakischen Grenze, sollen Tausende Freiwilliger, meist Angehörige schiitischer Minderheiten aus allen Ländern des Nahen Ostens, in Terroraktivitäten beschult worden sein.
Dieses Trainingslager wurde so zum Multiplikator schiitischer Märtyrer-Ideologie. Die Märtyrer-Praxis brachten iranische Revolutionsgardisten zu ihren schiitischen Glaubensbrüdern in den Libanon. In den dortigen Bürgerkrieg (1975–1990) hatte 1982 auch Israel eingegriffen, und in den Bürgerkriegswirren etablierte sich neben dem »Kampfmärtyrer« durch Einfluss iranischer Gardisten als neuer Typ der »Selbsttötungsmärtyrer« (Herbeiführung des Todes mit der eigenen Waffe). Verheerende Anschläge auf die Kasernen westlicher Truppen in Beirut am 23. Oktober 1983, bei denen 246 Amerikaner und 58 Franzosen getötet wurden, machten den Kampftyp des Märtyrers weltweit bekannt.
Drohungen Kein Vierteljahrhundert später wurde der Welt schon mit einem globalen Märtyrer-Einsatz gedroht. Auf der Teheraner Konferenz »Eine Welt ohne Zionismus« hatte Präsident Mahmud Ahmadinedschad in einer Rede vor Studenten am 26. Oktober 2005 erklärt, der Staat Israel müsse von der Landkarte getilgt werden. All jenen, die Israel anerkennen würden, drohte er »mit dem Zorn der Islamischen Nation«.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund derart unverhüllter Drohungen stehen bis heute große Teile der Völkergemeinschaft dem Atomprogramm des Iran mehr als skeptisch gegenüber.
atomprogramm Seit Jahren haben insbesondere die USA und Israel Zweifel an einer ausschließlich friedlichen Ausrichtung des iranischen Kernkraftprogramms. Eine künftige Atommacht Iran mit der Bereitschaft, seine Waffen nicht nur gegen seine »Hauptfeinde« einzusetzen, stellt über die Region hinaus ein gewaltiges Schreckensszenario dar. So diskutierten schon vor Jahren vornehmlich die »satanischen« Feinde des Gottesstaates militärische Interventionen – bis dato Planspiele.
Im April 2006 wurden die Diskussionen über die Folgen eines Angriffs auf den Iran medienöffentlich. Im Fall eines Militärschlags, so Einschätzungen von Nachrichtendienstlern in der Washington Post, »würden iranische Agenten Zivilisten in den USA, Europa und anderswo ins Visier nehmen«. Dem US-Magazin The New Yorker zufolge hatte man in den USA bereits »mit der Planung von massiven Bombenangriffen auf den Iran« begonnen. Ein derartiger Schlag, so seinerzeit die Befürchtungen, könnte in der Folge die ganze isla- mische Welt aufbringen und eventuell zu einer Kooperation von schiitischer Hisbollah und sunnitischer Al-Qaida führen.
teheran Die Reaktionen Teherans auf die Optionen der USA ließen nicht lange auf sich warten. Ende April 2006 drohte Ayatollah Ali Chamenei den USA mit massiver Vergeltung im Falle eines Angriffs: »Wenn sie uns angreifen, dann wird ihren Interessen überall in der Welt geschadet. Sie bekommen jeden Schlag, den sie uns zufügen, doppelt zurück.«
Nur einen Monat später wurde im Iran offiziell behauptet, dass man 40.000 Märtyrer rekrutiert hätte, die bereit wären, gegen den Westen loszuschlagen. Diese Drohung bekam ein halbes Jahr später mit dem Kommandeur der Revolutionsgarden ein Gesicht. Man hätte Tausende Männer zu Selbstmordattentätern ausgebildet, so Jahja Rahim Safawi im TV-Sender al-Alam, die jederzeit bereit wären, ihr Leben zur Verteidigung der Islamischen Republik zu geben. Bis zum heutigen Tag hat der Iran das Ziel, Atommacht zu werden, nicht aus den Augen verloren. Der Option militärischer Verhinderung dieses Ziels hat die Islamische Republik die Option des Einsatzes »menschlicher Bomben« entgegengestellt.
selbstmord Die Vorstellung, dass iranische Selbstmordschwadronen überall auf der Welt zuschlagen könnten, ist keine Fiktion. Schiitische Märtyrer-Ideologie und ihre Anwendungspraxis haben schon vor einem knappen Vierteljahrhundert Eingang in die Welt des sunnitischen Islam im Nahen Osten gefunden. Kurz nach Ausbruch der ersten Intifada wurde 1987 im Gazastreifen die – aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene – »Islamische Widerstandsbewegung« (Hamas) begründet. Ihre bis heute gültige Charta schließt eine politische Lösung mit Israel und damit auch eine Zwei-Staaten-Regelung aus.
Für den Djihad gegen den »hebräischen Staat« schuf die Hamas 1991 einen eigenen militärischen Arm, der sich nach dem arabischen Widerstandskämpfer und Märtyrer Izz ad-Din al-Qassam benannte. Schon früh spezialisierten sich die »al-Qassam-Brigaden« auf Terroranschläge und Selbstmordattentate. Orientiert am Erfahrungswissen der schiitischen Hisbollah im Liba- non erweiterten sie ihr Anschlagsspektrum um Zivilpersonen.
Hauptfeind Israel Den Märtyrer als Waffe setzte auch die ebenfalls aus der Muslimbruderschaft erwachsene Bewegung »Jihad Islami« mit dem Ziel ein, Israel als »Hauptfeind der Muslime« zu zerstören. Eine dritte palästinensische Bewegung, die zur Märtyrer-Waffe gegen Israel griff, entstand mit Beginn der zweiten Intifada. Als Al-Aqsa-Brigade trat sie namentlich erstmals im Juni 2001 in Erscheinung und verübte zunehmend Anschläge im israelischen Kernland – auch auf Zivilisten. Mit einem Anschlag Anfang 2002 schrieb die Al-Aqsa-Brigade »Märtyrer-Geschichte«, wurde dieser doch von Wafa Idris, der ersten Selbstmordattentäterin in der Geschichte der Inti- fada, begangen. Nach ihrem Anschlag bekam die junge Frau von sunnitischen Rechtsgelehrten in Ägypten den Status einer Märtyrerin, weil ihr Selbstmordeinsatz ein »Akt der Selbstverteidigung auf dem Weg Gottes« war.
Schwarze Witwen Danach war der Weg frei für Selbstmordeinsätze weiterer weiblicher Shahidas, nicht nur im Nahen Osten. In Russland stürmte am 22. Oktober 2002 ein etwa 50-köpfiges Kommando in Moskau ein Theater an der Dubrowka – und machte aus über 700 Besuchern eines Musicals Geiseln. »Die Tschetschenen sind nicht nach Moskau gekommen, um zu überleben, sondern um zu sterben«, so der junge Emir des »Islamischen Regiments für Sonderaufgaben« Mowsar Barajew. Zu seinem Märtyrer-Kommando gehörten auch 16 junge Kämpferinnen des »Witwen-Heldinnen-Bataillons Tschetscheniens«, wie sie sich seinerzeit auf der Internetseite Kavkaz.org nannten. Die jungen Frauen waren mit Sprengstoffgürteln verkabelt und kostümiert wie arabische Selbstmordattentäterinnen. Ihren Märtyrer-Tod hatten sie bereits vor ihrem Einsatz in Moskau im arabischen TV-Sender Al-Dschasira angekündigt.
Den hier abgedruckten Text entnehmen wir dem am
17. Februar erscheinenden Buch von Berndt Georg Thamm »Terrorziel Deutschland. Strategien der Angreifer, Szenarien der Abwehr« (Rotbuch Verlag, Berlin 2011, 288 S., 19,95 Euro). Bereits am heutigen Donnerstag (10. Februar) stellt der Autor, der zu den renommiertesten deutschen Terrorismusexperten gehört, um 19.30 Uhr seine Analysen in der Berliner Urania (An der Urania 17) vor.