»Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig.« An diesen Satz der afrodeutschen Lyrikerin May Ayim musste ich oft denken, am Tag der deutschen Einheit. Auch mir wurde etwas schwindelig bei den Feierlichkeiten. In der Freude über das Ende eines totalitären Regimes schien mir oft auch ein neues deutsches Selbstbewusstsein mitzuschwingen, dass so gar nicht zum Ideal der offenen Gesellschaft passte.
Aleida Assmann sprach vom »Weltmeister der Erinnerungskultur«, Eike Geisel über die »Wiedergutwerdung« Deutschlands: Beide meinten die Erkenntnis, dass der Holocaust inzwischen nicht mehr als Makel im nationalen Selbstbild empfunden wird, sondern gerade tragende Säule eines neuen deutschen Nationalismus geworden ist: weil man ja aus ihm gelernt habe.
ERLÖSUNG Die berühmte Formel Richard von Weizsäckers, »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«, scheint sich zynisch zu bewahrheiten: Wer sich erinnert, ist automatisch erlöst – und wieder moralische Instanz. Teil dieser Logik ist die deutsche »Israelkritik«: Da wir, die Nachfahren der Täter, unsere Hausaufgaben vorbildlich erledigt haben, seid ihr, liebe Nachfahren der Opfer, nun an der Reihe.
Die Wiedergutgewordenen dürfen den Wiederholungstätern eine Mängelliste erstellen und Besserung fordern.
Ein Beispiel dafür war der in diesem Jahr verstorbene Norbert Blüm, der über den »Vernichtungskrieg« der Israelis klagte. Er begründete dies damit, dass ein Deutscher nach Auschwitz »gerade deshalb« – also wegen Auschwitz – so reden darf oder gar muss. Nach dem Motto: Die Israelis machen genau das, was wir getan, aber zutiefst bereut haben.
SPASSPOLITIKER Ein aktuelles Beispiel ist der deutsche Satiriker und Politiker Martin Sonneborn, der pünktlich zum Tag der deutschen Einheit diesem neuen deutschen Selbstbewusstsein Ausdruck verlieh:
»Israel, d.h. Überlebende eines Völkermords (begangen von Deutschen), liefert fortlaufend Drohnen an #Aserbaidschan, mit denen Armenier, Überlebende eines Völkermords (mitverantwortet von Deutschen), im zivilen #Bergkarabach bombardiert werden. Während Deutschland zusieht. Bizarr.«
Um Waffenlieferungen in Konfliktregionen moralisch zu verurteilen, braucht man nicht an die Schoa zu erinnern (und auch nicht an den Völkermord an den Armeniern). Offensichtlich geht es Sonneborn nicht um Bergkarabach, sondern darum, als gutgewordener Deutscher die schlechtgewordenen Juden zu belehren.
Endlich! Die Wiedergutgewordenen dürfen den Wiederholungstätern eine Mängelliste erstellen und Besserung fordern. Bemerkenswert, dass Sonneborn vor wenigen Tagen im »Spiegel« verkündete, künftig weniger als Spaßpolitiker auftreten zu wollen. Ist die moralische Selbsterhöhung über die Nachfahren der Opfer etwa ein Geschäftsmodell, um in Deutschland 2020 als Politiker ernst genommen zu werden?
KONSEQUENZEN »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, lautet ein Satz des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix. Heute könnte man sagen: Die Deutschen werden keine Gelegenheit verpassen, die Juden über Auschwitz zu belehren.
Heute beansprucht sogar die AfD, aus Auschwitz gelernt zu haben. Wir müssen vorsichtig sein, wenn direkte politische Konsequenzen aus der Schoa gefordert werden. Es ist legitim, dass die Nachkommen der Täter und die der Opfer unterschiedliche Konsequenzen für sich ziehen. Die Forderung »Nie wieder« kann für Deutschland bedeuten, nie wieder in den Krieg zu ziehen: Nie wieder Täter sein. Israel kann mit »Nie wieder« die Notwendigkeit des Besitzes von Atomwaffen begründen: Nie wieder Opfer sein.
Doch niemand hat das Monopol auf die Lehre von Auschwitz.
Auschwitz war keine Schule.