Im 19. Jahrhundert machten sich viele Juden in Mittel- und Osteuropa auf und verließen ihre Heimat für immer. Die einen nach Westen, die anderen nach Süden. Die einen lockte das, was sie über Amerika gehört hatten. Im Land der Freiheit konnten Juden auf die Art Juden sein, die ihnen am besten gefiel. Die nach Süden gingen, wählten den Zionismus, um ein Gemeinwesen aufzubauen, in dem der Staat selbst jüdisch sein würde.
Diese zwei radikal unterschiedlichen Antworten auf die Frage, wie man in der modernen Welt als Jude leben soll, kann man auch Privatisierung und Nationalisierung nennen. Beide haben ihre Stärken und Schwächen. Privatisierung gibt dem Individuum absolute Freiheit und setzt alle Arten unternehmerischer Kreativität frei; doch sie untergräbt das Gefühl für gegenseitige Verpflichtung und die Verantwortung für das Ganze.
Nationalisierung hingegen stellt ein Sicherheitsnetz zur Verfügung und bietet allen einen festen Rahmen. Doch sie nimmt dem Einzelnen das Gefühl für die eigene Verantwortung, etwas zu bewirken. Und bald wird allgemein angenommen, der Staat allein trage die Verantwortung dafür, dass etwas geschieht und Dinge zu Ende gedacht werden.
Konsens Nach der Schoa blickten beide Gruppen – amerikanische Juden und Israelis – auf die Ruinen des europäischen Judentums zurück, das sie zurückgelassen hatten, und fühlten sich in ihrer Überzeugung bestärkt, das jüdische Leben in Europa sei dem Untergang geweiht. In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten war es Konsens, dass das jüdische Leben zwei Zentren habe – Amerika und Israel.
Anderenorts könne es nur existieren, indem es aus einem dieser beiden Zentren Stärke und Energie zog. Tatsächlich projizierte jedes der beiden Zentren seine eigenen Vorstellungen auf Europa. Das American Joint Distribution Committee propagierte eine säkularisierte, wohlfahrtsorientierte, kulturelle Form von jüdischer Gesellschaft, während die Jewish Agency zur Alija aufrief und auf ein jüdisches Leben abzielte, das einzig und allein um Israel kreiste.
Doch die Zentren Amerika und Israel haben mittlerweile selbst Probleme: In den USA ergab kürzlich die bis dato um-
fassendste Umfrage unter amerikanischen Juden, dass der Verlust des jüdischen Selbstverständnisses ein schockierendes Niveau erreicht hatte. In Israel belegte ein Regierungsbericht einen ebenso schockierenden Mangel an Wissen über jüdische Werte oder Bräuche und auch nur der lockersten kulturellen Bindung an sie.
Zukunft Jahrzehntelang waren sich die zwei selbstbewussten jüdischen Zentren – Amerika und Israel – sicher gewesen, sie allein könnten den Weg in die Zukunft weisen. Mit einem Mal sehen sie, dass das womöglich nicht stimmt und dass das arme alte Europa Wissen von etwas besitzt, das sie vergessen hatten.
Denn eine jüdische Welt, die entweder nur auf dem Individuum oder dem Staat aufgebaut ist, kann nicht funktionieren. Das uralte, in Europa noch immer lebendige Modell der »Gemeinde« weist dagegen einen Weg in die Zukunft.
Gemeinde heißt hier Einheitsgemeinde, die Juden aller religiösen und anderer Richtungen unter einem Dach versammelt, also auch die Menschen einschließt, die man vielleicht nicht mag und mit denen man nicht einer Meinung ist. Für Juden in Europa ist es selbstverständlich, dass sie eine eigene ethnische Gemeinschaft sind, die sich selbst vertreten muss. Die Verortung religiöser Gemeinden im europäischen Leben gibt den Juden die Gewissheit, dass sie als Juden gehört werden – und fordert sie auf, sich im Religiösen von anderen zu unterscheiden. Das ist ein Aspekt, der weder in Israel noch Amerika eine Selbstverständlichkeit ist.
Europa hat also fast durch Zufall einen dritten Weg zwischen Individualisierung nach amerikanischer und Nationalisierung nach israelischer Manier gefunden.
Einfluss Leider ist dieses Modell für uns so selbstverständlich, dass wir seine Bedeutung oft nicht erkennen. Vielleicht stehen wir auch noch immer zu sehr unter dem Einfluss der lauteren und selbstbewussteren Stimmen aus Israel und Amerika. Auch ist unsere Perspektive oft so sehr national verengt, dass wir das, was am gesamteuropäischen Judentum gut ist, nicht in Gänze sehen können.
In Israel und den Vereinigten Staaten ist man da zum Teil schon weiter. Limmud zum Beispiel wurde in Großbritannien entwickelt, und ist inzwischen nicht nur in Kontinentaleuropa verankert, sondern auch dabei, Amerika zu »erobern« und allmählich sogar in Israel Fuß zu fassen. In beiden Ländern heißt es, dieses Lernprogramm, bei dem sich Juden aller religiöser und politischer Richtungen treffen, werde gebraucht, weil es vor Ort nichts Vergleichbares gebe.
Vielleicht also wird das wacklige zweibeinige Konstrukt des weltweiten Judentums am Ende doch noch zu einem stabilen dreibeinigen. Die einzige Frage, die noch der Beantwortung harrt: Sind Europas Juden bereit, ihren Platz am globalen Tisch einzufordern und einzunehmen?
Der Autor ist Mitbegründer der Limmud-Bewegung und lebt in London.