Gestern Nachmittag am Alexanderplatz. Rund 200 Menschen haben sich vor dem Kaufhaus Galeria Kaufhof versammelt und schwenken Palästina-Flaggen. Eine Demonstration, wie es seit Wochen viele in Deutschland und Westeuropa gibt. Männer, Frauen und Kinder – fast alle arabischer Herkunft – tragen Plakate mit der Aufschrift »Freiheit für Palästina«.
In einer großen Traube stehen sie um vier Wortführer, die sich nebeneinander aufgereiht haben. Etliche tragen eine Kufija auf den Schultern. Ordner in grünen Westen stehen am Rand, ein Dutzend Polizisten beobachtet das Geschehen aus der Nähe, in etlichen Mannschaftswagen sitzen weitere Beamte.
Eine Frau in hellblauem Kleid und Hijab schreit ins Mikrofon: »Deutschland finanziert – Nethanjahu massakriert«. Die Demonstranten rufen es ihr nach. »Gazas Kinder wollen leben – Israel ist dagegen«, brüllt die Frau weiter, und ihre Stimme überschlägt sich. Es klingt weniger verzweifelt als voller Hass.
Pfeifen und grölen
Die Frau fuchtelt mit den Armen, die Teilnehmer sind ihr nicht laut genug, sie versucht Schwung in die Veranstaltung zu bringen. Sie erinnert an eine autoritäre Grundschullehrerin, deren Schüler ihr nicht aufs Wort gehorchen. »Stoppt den Mord, stoppt den Krieg – stoppt den Gaza-Genozid«, schreit sie, und die Menge ruft es ihr nach.
Die Frau schreit und schreit, ihre hohe schrille Stimme schallt über den Alexanderplatz. »Israel – Kindermörder«, »Israel – Frauenmörder«, brüllt sie. Allmählich wird die Menge lauter und ruft ihr die Worte nach. Als die Frau fertig ist, pfeifen und grölen ein paar junge Männer. Erschöpft reicht sie das Mikrofon an einen der männlichen Wortführer weiter.
Ein junger Polizist nähert sich der Frau und den anderen Wortführern. Er spricht leise und besonnen zu ihnen, das Mikrofon ist ausgeschaltet.
Protest gegen Auflagen
Dann tritt ein junger Mann mit Bart und dunklen Anzug nach vorn, schaltet das Mikrofon an und sagt: »Wir haben gerade die Information bekommen, dass – ich zitiere – ›Kindermörder Israel‹ verboten ist. Man darf es nicht mehr sagen.« Die Menge grölt: »Buh!«, und es wird getrommelt.
»Jedenfalls darf man nichts mehr über den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu sagen. Also, wenn wir uns die eindeutige Sachlage anschauen, dann gibt der israelische Premierminister den Auftrag, dass Gaza bombardiert wird, angegriffen wird und dementsprechend auch Kinder sterben. Und das macht einen eigentlich zum Mörder. Und wenn es Kinder sind, dann eigentlich zum Kindermörder. Aber das ist nicht schlimm, wenn wir nicht mehr Kindermörder sagen dürfen. Dann sagen wir eben ›Puppenmörder‹.« Beifall.
Zynisch setzt der junge Mann fort: »Das ist die Meinungsfreiheit in diesem Land – Kinder dürfen bombardiert werden, sie dürfen ausgehungert werden, Männer dürfen bombardiert werden, und sie dürfen die toten Leichname ihrer kleinen Söhne auf dem Arm tragen, während der Kopf ab ist, oder ganz viele andere schreckliche Bilder. All das ist möglich. Solange das Ganze stattfindet, ist die Bundesregierung bedingungslos an der Seite dieses Staates. All das ist möglich. Aber zu sagen, dass jemand ein Kindermörder ist, das ist in diesem Land nicht erlaubt. Das sind die Auflagen der Polizei.« Die Menge pfeift und grölt »Buh!«
Anspielung an den Holocaust
»Aber scheiß drauf, die können uns so viele Auflagen geben, wie sie wollen. Wir finden immer wieder Wege, das ist kein Problem. Ich komme gerade vom Gericht, und ich habe gewonnen!« Die Menge grölt begeistert. Jubel und Pfeifen.
Dann fährt er fort: »Ich will nur eine Sache nochmal loswerden an die Politik: Ihr könnt das israelische Blut, welches an euren Händen klebt, nicht mit dem Blut der Palästinenser reinwaschen.« Offenbar eine Anspielung an den Holocaust. Die Menge grölt.
»Die ganze Welt geht auf die Straße«, fährt er fort. »Lasst euch von niemandem davon abhalten. Wir werden weiter auf die Straße gehen. Jetzt geht’s erst richtig los!«, sagt er fast drohend.
Irritierte Blicke
Nach ihm tritt ein schlanker Mann mittleren Alters mit Bart und Sonnenbrille ans Mikrofon, die Kufija über die Schultern gelegt. »Nieder, nieder mit der Besatzung!«, schreit er. »76 Jahre versuchen sie, das Blut Palästinas auszulöschen. Doch jetzt, nach 76 Jahren wollen Milliarden Menschen weltweit das Gleiche: Freiheit, Gerechtigkeit für alle und besonders für die Unterdrückten in Palästina.«
Dann stimmt er an: »Freiheit für Palästina!« Die Menschen rufen seine Worte nach. Eine Trommel gibt den Rhythmus vor. »Hebt den Kopf, hebt die Hand – Palästina unser Land!«, gibt er vor, und die Demonstranten wiederholen es laut. »Hebt die Hände!«, weist er die Teilnehmer an, und einige strecken die Arme nach oben. »Palästina ist unser Land«, schreit er, und seine Stimme überschlägt sich, so laut, ja wütend und voller Trotz ruft er die Worte über den Alexanderplatz. »Palästina ist unser Land!«, peitscht er die Menge ein.
»Das wird auch so sein und bleiben. Wir werden es ihnen zeigen, wer am Ende als Sieger dasteht! Nicht deren barbarische Armee, sondern …«, schreit er, und dann noch lauter und mit starkem Nachdruck, dass ihm die Stimme erneut überschlägt, »… unsere Menschlichkeit!« Mit Hass erfülltem Gesicht schleudert er das Wort ins Mikrofon. Ein Wort, das so gar nicht zu dem drohenden Ton passt, den er anschlägt. Etliche Teilnehmer klatschen, doch andere blicken ein wenig irritiert.
Ob der eine oder andere bei diesen Worten wohl die Bilder im Kopf hat, die zeigen, mit welcher Brutalität die Terroristen der Hamas am 7. Oktober Israelis quälten, vergewaltigten, ermordeten? Bilder, die seit dem 7. Oktober im Netz kursieren und so absolut nichts gemein haben mit der vermeintlichen »Menschlichkeit«, von der er spricht.