Frau Küchler, wie blicken Sie auf das erste Halbjahr des deutschen IHRA-Vorsitzes inmitten der Corona-Pandemie?
Wir sind hoffnungsvoll mit unserer Eröffnungsveranstaltung am 3. März im Berliner Abgeordnetenhaus gestartet. Sie stand damals schon im Zeichen von Corona. Die Pandemie hat unsere Aktivitäten beeinträchtigt, und wir haben versucht, das Beste daraus zu machen und online präsent zu sein. Die 34 IHRA-Mitglieder haben uns gut unterstützt. Manches hätten wir leichter vor Ort machen können, etwa beim Thema Gedenkstätten. Unsere erste Plenarversammlung, die vom 29. Juni bis zum 2. Juli in Berlin geplant war, haben wir mit 140 Delegierten in verschiedenen Zeitzonen ins Internet verlegt.
Was ist seit März bisher konkret erreicht worden?
Wir haben eine Definition zu Antiziganismus vorgelegt und dafür eine breite Zustimmung von den meisten IHRA-Mitgliedern erhalten. Einige fehlen noch. Ich bin guter Hoffnung, dass wir die Definition spätestens im Dezember verabschieden können. Die Roma sind die größte Minderheit in Europa. In der Corona-Pandemie sind sie von Vorurteilen und Verschwörungsmythen betroffen: Angeblich hätten sie das Virus verbreitet. Dabei sind sie oft die ersten, die wegen Corona aus oft unsicheren Arbeitsverhältnissen entlassen werden. Roma heute leiden noch immer an den Folgen des NS-Völkermords an ihren Vorfahren. Während unserer ersten Plenarversammlung wurden online zwei Kammeropern aufgeführt, die den hundertausendfachen Mord an Sinti und Roma zum Thema hatten. Ich bin sehr froh, dass sowohl die Komponisten als auch die meisten Ausführenden Angehörige der Roma-Gemeinschaft waren.
Inwiefern kann die erarbeitete Definition helfen?
Der Genozid ist ein sehr schweres Schicksal. Und Staaten und Gesellschaft stehen noch am Anfang der Aufarbeitung. Dazu möchten wir einen Beitrag leisten. Jetzt finden weitere Gespräche zum aktuell dritten Entwurf der Definition statt, und wir arbeiten an der weiteren Zustimmung.
Geplant war unter dem deutschen Vorsitz auch die Bildung einer »Globalen Task-Force gegen Holocaustverfälschung«, für die das Auswärtige Amt eine Million Euro zur Verfügung stellen wollte.
Das ist geschehen. Anders als bei Holocaustleugnung ist eine Verfälschung mitunter schwierig zu erkennen. Wir wollen mit der »Task-Force« Menschen Unterstützung und Hilfen an die Hand geben, um Antiziganismus zu erkennen und entschieden darauf zu reagieren. Bis Dezember wollen unsere Experten Empfehlungen dafür erarbeiten. Ergänzend wollen wir eine Online-Anwendung entwickeln, die eine leicht verständliche Anweisung sein wird.
Können Sie bitte Beispiele für Holocaust-Verfälschung nennen?
Bei Corona-Demonstrationen haben wir Menschen gesehen, die einen gelben Stern – den von den Nationalsozialisten so genannten Judenstern – trugen mit der Aufschrift »ungeimpft«. Oder die Transparente bei sich trugen, die das Tor des früheren KZ Auschwitz zeigten. Statt der Inschrift »Arbeit macht frei« stand dort »Impfen macht frei«.
Die IHRA hat in der Vergangenheit auch eine Definition zu Antisemitismus entwickelt. Sie ist rechtlich nicht bindend, aber wenn ein Staat sie annimmt, könne es mit dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden eine »zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung« geben, haben Sie einmal gesagt. Zum Zeitpunkt der Übernahme des deutschen Vorsitzes Anfang März hatten 19 Staaten diese Definition angenommen. Sind welche dazu gekommen?
Mittlerweile sind es 22 Staaten. Hinzu kommen Institutionen, die nicht-staatlich sind, die ebenfalls dazu beitragen wollen, in die Gesellschaft entsprechend hineinzuwirken. Bei unserer geplanten zweiten Plenarversammlung vom 30. November bis zum 3. Dezember in Leipzig wollen wir über die weitere Verbreitung der Definition beraten.
Was ist darüber hinaus noch in den ersten sechs Monaten passiert?
Wir haben den Vorsitz von Luxemburg übernommen. Schon damals war ein Papier erarbeitet worden zum Lehren und Lernen über den Holocaust. Die deutsche Übersetzung ist jetzt als Printversion erhältlich und auf der Webseite der IHRA abrufbar.
Der deutsche IHRA-Vorsitz fällt seit Juli mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zusammen. Auch dabei hat man sich den Kampf gegen Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben. Gibt es auf diesem Feld eine Zusammenarbeit?
Am 10. September ist die Online-Konferenz »Gemeinsam gegen Antisemitismus in Europa – Strukturen und Strategien für eine ganzheitliche Bekämpfung« geplant. Dabei wird auch die IHRA vertreten sein. Und am 12. Oktober wird es den EU-Roma-Gipfel geben, ebenfalls digital. Bei dieser Veranstaltung erhoffen wir uns auch neue Impulse für den Kampf gegen Antiziganismus.
Juden in Europa äußern sich immer wieder besorgt über vermehrten Antisemitismus. Vor einigen Tagen sorgte der mutmaßlich islamistisch motivierte Angriff auf Rabbiner Elie Rosen in Graz für Empörung. Wie kann man gegen solche Taten vorgehen?
Zuerst einmal: Diese Angriff ist vollkommen inakzeptabel. Um so etwas zu verhindern, ist natürlich Bildung ganz wichtig, aber auch nach Beendigung der Schule muss es Mittel und Wege geben. Es ist zu begrüßen, wenn der Mord an den europäischen Juden Thema innerhalb der Justiz, der Polizei und der Staatsanwaltschaften ist, etwa in der Ausbildung und bei Fortbildungen. Und wir müssen die Mittel des Rechtsstaates anwenden, um gegen Straftaten vorzugehen und sie vor Gericht zu bringen.
Das Interview mit der Sonderbeauftragten für Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Holocaust-Erinnerung, Antisemitismus-Bekämpfung und internationale Angelegenheiten der Sinti und Roma führte Leticia Witte.
Anfang März übernahm Deutschland für ein Jahr den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die Institution möchte Bildung, Erinnerung und Forschung zum Holocaust sowie zum Völkermord an den Sinti und Roma fördern.