Im Babylonischen Talmud heißt es: »Dein Haus soll der Sammelort der Weisheit sein.« Das ist ein hehrer Anspruch, der uns schlucken lässt. Egal, ob wir auf unsere Familien blicken, auf unsere Gemeinden oder die Häuser, in denen wir arbeiten – es käme uns vermessen vor, sie als Orte der Weisheit zu bezeichnen. Doch schlussfolgern wir daraus, diesen Anspruch von vorneherein aufzugeben?
Beim diesjährigen Gemeindetag, der an diesem Wochenende in Berlin stattfindet, geht es auch um unser Haus: »Ein Dach, eine Familie« haben wir als Motto gewählt. Wir möchten uns diesem Thema von vielen Seiten nähern und unbequemen Fragen nicht ausweichen.
herausforderungen Was sind in unserer heutigen Zeit die Herausforderungen, denen wir uns in unseren Familien stellen müssen? Es sind sicherlich – wie in jeder Familie – die Möglichkeiten und Risiken der Digitalisierung. Unterhalten wir uns noch beim Essen, oder schielt jeder nur auf das Display seines Smartphones? Chatten wir, anstatt miteinander zu sprechen? Schließen wir unser Kind von seiner Peergroup aus, wenn wir ihm verbieten, nach 21 Uhr noch zu »whatsappen«? Und hatten wir Eltern uns nicht erst vor Kurzem unglaublich über das Foto unseres erwachsenen Sohnes aus seinem Urlaub gefreut, das gegen Mitternacht eintraf – und von uns, um ehrlich zu sein, sofort angesehen wurde?
Die Welt verändert sich in einem rasanten Tempo. Diese Veränderungen machen vor unseren Familien nicht halt. Neue technische Geräte ziehen ein, die Kinder ziehen aus – allerdings immer später, weil Studentenbuden inzwischen so teuer sind wie einst eine Dreizimmerwohnung in Schwabing oder im Frankfurter Westend.
Die jungen Leute wachsen damit auf, dass alles, was sie brauchen, jederzeit verfügbar ist. So kennen sie es vom Internet. Gerne übertragen sie diese Erfahrung auf ihre gesamte Umgebung. Arbeitnehmer machen die Erfahrung, dass Feierabend nicht mehr heißt: Mein Chef lässt mich jetzt in Ruhe. Es wird erwartet, dass man immer erreichbar ist, immer online. Depressionen und Burn-out nehmen zu.
beliebigkeit Vieles in unserem Leben ist grenzenlos und uferlos geworden. Beliebigkeit hat Einzug gehalten. Muss es uns dann verwundern, wenn im Internet hasserfüllte Kommentare zum Normalfall geworden sind? Wenn alles beliebig ist, ist auch alles erlaubt. Warum sollte man dann Hemmungen haben, auf Juden oder Muslime zu schimpfen, Israel zu verunglimpfen oder Politiker in den Schmutz zu ziehen?
Gerade jene, die hetzen, berufen sich auf die Meinungsfreiheit. Sie verhöhnen die Political Correctness. Damit jedoch pervertieren sie die Meinungsfreiheit. Grenzenlosigkeit bedeutet häufig auch Haltlosigkeit. Viele Menschen haben weder Halt noch Orientierung in ihrem Leben. Wenn dann plötzlich Flüchtlinge in einer Zahl nach Deutschland kommen, wie es das jahrzehntelang nicht gab, dann wirkt dies auf sie wie eine existenzielle Bedrohung – oder sie lassen sich einreden, dass die Flüchtlinge sie bedrohen.
Was geben wir unseren Kindern als Halt mit? Wie kommen wir selbst mit dieser Entwicklung zurecht? »Dein Haus soll der Sammelort der Weisheit sein«: Das sagt eigentlich schon alles.
Als Juden haben wir eine klare Orientierung. Sie ist jahrtausendealt. Sie hat jeden Zeitgeist überlebt. Es heißt nicht: Schotte dich ab! Verweigere jede Modernisierung! Aber klug und vielleicht sogar weise abzuwägen, wo wir uns einreihen, wo wir mitlaufen oder wo wir ganz bewusst den eigenen Weg wählen – das ist uns aufgegeben.
tikkun olam Das bedeutet, in unseren Familien für Halt und Zusammenhalt zu sorgen. Indem wir respektvoll miteinander umgehen, indem es Regeln gibt, indem jeder nicht nur auf die eigenen Bedürfnisse schaut, sondern die ganze Familie im Blick behält. Das Gleiche gilt für unsere Gemeinden und die gesamte jüdische Gemeinschaft in Deutschland. So unterschiedlich wir sind, sollten wir doch einander Halt und Orientierung geben. Judentum ist das Gegenteil von Beliebigkeit. Tikkun Olam erfüllt sich nicht, wenn der Sinn des Daseins in der nächsten Amazon-Bestellung liegt.
»Ein Dach, eine Familie« – auch das wird der eine oder andere als hehren Anspruch empfinden. Nicht alle Juden in Deutschland haben den Zentralrat als Dach gewählt. Es ist aber doch die überwältigende Mehrheit der jüdischen Gemeinden, die Mitglieder im Zentralrat sind. Daher sehen wir unseren Auftrag auch darin, für diese Vielfalt der Gemeinden das Dach zu bilden und sie nach außen politisch zu vertreten.
Eine große jüdische Familie in einem gemeinsamen Haus – ob dies auch ein Sammelort der Weisheit sein wird, hängt im Wesentlichen von uns selbst ab. Es sollte auf jeden Fall ein Haus sein, in dem wir uns wohlfühlen. Wenn Weisheit hinzukommt, umso besser!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.