Wer sich an einem beliebigen Tag durch die deutsche Zeitungslandschaft bewegt, wird auf Ereignisse und Schlagworte stoßen, die den Zustand unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit deutlich machen. Zum Beispiel Zossen bei Berlin, wo Neonazis verdächtigt werden, das von der Bürgerinitiative »Zossen zeigt Gesicht« errichtete Haus der Demokratie angezündet zu haben. Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. In dem Städtchen werden regelmäßig die »Stolpersteine« beschmiert; vor wenigen Tagen musste ein Mitglied der Bürgerinitiative an der Hauswand vor seinem Geschäft eine Morddrohung lesen – versehen mit einem Hakenkreuz.
Komasaufen Darüber hinaus erreicht mich eine Vielzahl von Nachrichten über alltägliche Brutalität oder Rassismus, die auf Schulhöfen, auf der Straße, nach Fußballspielen zwischen verfeindeten Fan-Gruppen ausgelebt werden und keine unmittelbare Verbindung mit dem Rechtsextremismus haben. In meiner Zeitungslektüre stoße ich vermehrt auf Begriffe wie Gewaltspirale, Hetze, Angstmache, Populismus, Komasaufen, Einschüchterung, Verrohung, Hemmschwelle, Chancenlosigkeit, soziale Benachteiligung, Ohnmacht. Jenseits der über 20.000 im Jahr 2009 registrierten Straftaten, die der rechtsextremen Szene zugeordnet werden müssen, spiegelt sich darin ein weiteres besorgniserregendes Phänomen: die zunehmende, flächendeckende Entsolidarisierung und Verrohung der Gesellschaft.
Die neuere Sozialforschung nennt das »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«. Das aber weist über den organisierten Rechtsextremismus hinaus. Dieser ist ohne Gewalt als Mittel der Einschüchterung nicht denkbar. In ländlichen oder kleinstädtischen Gebieten ist das direkt spürbar. Um die 80 Neonazis sind es in Zossen; sie haben das Potenzial, ein ganzes Gemeinwesen zu erschüttern. Aus vielen Berichten wissen wir, dass die Bereitschaft der örtlichen Polizei, rechtzeitig einzugreifen, zu wünschen übrig lässt. An manchen Orten, wo jeder jeden kennt, haben Initiativen den Eindruck, sie würden als die eigentlichen Störenfriede wahrgenommen – und nicht die rechten Schläger.
Armutsgrenze Dass Rechtsextreme keine Einwanderer mögen und andere Kulturen als Bedrohung wahrnehmen, ist bekannt. Ein derartiges Weltbild aber reicht längst bis in die Mitte der Gesellschaft. Kein Zweifel, der organisierte oder in losen Kameradschaften verbundene Rechtsextremismus ist noch immer die größte Herausforderung, europaweit. Aber rechte Gruppierungen erstarken auch deshalb, weil immer mehr Menschen dem entfesselten Kapitalismus und seinen Krisen hilflos ausgeliefert sind. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt unterhalb der Armutsgrenze. Es ist mit Händen zu greifen, dass sich da etwas in die Gesellschaft hineinfrisst, was in Frankreich bereits die Vorstädte brennen lässt. Eine Strategie, wie dem in Deutschland und erst recht in einem integrierten Europa zu begegnen wäre, ist nicht einmal in Ansätzen sichtbar.
Vor zehn Jahren habe ich zusammen mit Paul Spiegel, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, die Initiative »Gesicht Zeigen!« ins Leben gerufen. Nach einer Dekade Arbeit besteht kein Zweifel: Rechtsextremismus hat sich regional und übergreifend auch in der Jugendszene verfestigt. Es reicht jedoch nicht mehr, den Blick nur nach rechts außen zu richten. Denn aktuell 30 Prozent der jungen Menschen in Deutschland finden, es gibt zu viele Ausländer; jeder siebte Jugendliche bekennt, »sehr ausländerfeindlich« eingestellt zu sein. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter 45.000 Neuntklässlern. Dennoch empfinden sich längst nicht alle als rechtsextrem.
Schulabschluss Vertiefende Studien zeigen, dass der rechtsextreme Rand der Gesellschaft – trotz des Aufkeimens einer neuen »intellektuellen Rechten« – als bildungsfern einzustufen ist. Damit wird klar: Der Erfolg im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wird davon abhängen, ob es gelingt, die Rekrutierungsfelder für eine rechtsextreme Anhängerschaft einzudämmen. Je mehr Jugendliche ohne Schulabschluss oder Beruf vor den geschlossenen Türen der Gesellschaft stehen, desto häufiger werden wir mit Armut und Gewalt umzugehen haben.
Bildung und Ausbildung sind ein Schlüssel, um inneren Frieden zu schaffen. Dafür bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, eines nationalen Gipfels, zu dem sich Vertreter aus Politik, Wirtschaft, aus den Gewerkschaften und Bildungs- und Kulturinstitutionen treffen. Dort sollten auch diejenigen eine Stimme haben, die als Schulpsychologen, Sozialarbeiter, Pädagogen und in lokalen Initiativen über die Wirklichkeit in unserem Land berichten können. Experten haben errechnet, dass bis zu 24 Milliarden Euro in Deutschlands Schulen investiert werden müssten, um den Grad der Chancengleichheit zu erhöhen. Das wäre eine Zukunftsinvestition für alle, für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Noch ist es nicht zu spät.
Der Autor ist Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender des Vereins »Gesicht Zeigen!« sowie Chefredakteur der SPD-Parteizeitung »Vorwärts«.