»Verdienst« ist wahrscheinlich der Begriff, der einem als Erstes in den Sinn kommen mag, wenn man das Wirken von Charlotte Knobloch betrachtet. Um das Ausmaß ihres Verdienstes zu erahnen, muss einer in der Synagoge Ohel Jakob in der Münchner Altstadt stehen.
Er muss zuvor durch das Ensemble von Gemeindezentrum und Museum gehen, vor der Synagoge stehen, die ihn an die Klagemauer in Jerusalem denken lässt, und dann hineinschreiten in die Synagoge, die Gotteshaus und Mahnmal zugleich ist. Das Jüdische Zentrum in München ist das größte Verdienst und auch der größte Triumph Charlotte Knoblochs.
triumph Ja, sie hat hier triumphiert. In München, ihrer Geburtsstadt, der Stadt, die das Herz der Nazibewegung bildete, in der die alte Hauptsynagoge bereits 1938 abgerissen wurde. Die Stadt, die sie verstoßen hat und deren Todesurteil sie nur mit größter Not und viel Glück entkam; versteckt auf dem Land unter falschem Namen. Die Stadt, in die sie nach den Schrecken des Krieges zurückkehrte, mit all dem Leid, das sie erfahren hatte. Der Schmerz, von dem sie gehört hat, unter anderem durch ihren Mann Samuel Knobloch sel. A., der das Krakauer Ghetto und die Konzentrationslager Plaszow und Buchenwald überlebt hatte und dessen Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Die Koffer waren gepackt. Nach St. Louis sollte es gehen, aber dann
doch: München.
Die Rückkehr fiel ihr nicht leicht. Diese Deutschen sollten nun die größten Judenfreunde sein? Das wollte sie nicht glauben. Es war auch Scham dabei; Scham, im Land der Mörder zu leben. Gefühle, die für jüngere nichtjüdische Menschen heute nur schwer zu verstehen sind. Die Koffer waren gepackt. Nach St. Louis sollte es gehen, aber dann doch: München. Heute sagt sie, München, Bayern und Deutschland – das sei ihre Heimat. Und die Menschen sind ihr mit der Zeit ans Herz gewachsen.
Engagement Ihr Engagement in der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern war ihr von Beginn an eine Lebensaufgabe. Zunächst im sozialen Bereich und schließlich als Präsidentin seit 1985 bis heute. Schon früh entsteht der Plan für den Bau des Jüdischen Zentrums, das 2006, am 9. November, mit der Einweihung der Ohel-Jakob-Synagoge endlich Wirklichkeit wird.
Bei dieser Gelegenheit spricht sie aus, was sie seit Ende des Krieges antreibt: Damit werde ein neues Kapitel in der Geschichte von Nichtjuden und Juden in Deutschland aufgeschlagen. 61 Jahre nach ihrer Rückkehr nach München – die Last dieses Momentes ist ihr an diesem Tag anzusehen.
Sie ist nun auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Bei aller Geradlinigkeit ist ihr jedoch keine Spur von Verbitterung oder Genugtuung anzumerken. Wenige Wochen zuvor ist sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland geworden. Sie wusste es vermutlich schon mit Amtsantritt: Sie wird die letzte Person sein, die den Zentralrat führt und die Schoa überlebt hat. Auch heute noch trägt sie diese Bürde des »Erlebt-und-Überlebt-Habens« mit solcher Demut, dass die große Verantwortung für die nachfolgenden Generationen greifbar wird – aufseiten der Opfer wie der Täter.
bewusstseinswandel Charlotte Knoblochs Amtszeit im Zentralrat steht unter dem Stern dieses Bewusstseinswandels, der uns nicht nur als jüdische Gemeinschaft in Deutschland, sondern als Gesellschaft insgesamt betrifft. Und sie ist damit in ihrer ganz eigenen Art umgegangen. Sie hat Deutschland wieder zu einem Begegnungsort für internationale jüdische Organisationen gemacht, die das Land lange Zeit gemieden haben. Als einer ihrer Nachfolger bin ich ihr zu Dank verpflichtet und habe größten Respekt vor dieser Leistung.
Charlotte Knobloch war und ist in ihren Ämtern nie bequem. Sie nimmt den Wandel der Deutschen nicht einfach hin, sondern sie ist ihr Gewissen. Ihre Stimme ist dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, gefragt, sie hat Gewicht. Als sie 2021 im Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sprach, war die Schwere des Augenblicks regelrecht spürbar. Die sehr persönliche Rede wird auch eine große Mahnung.
Die Zugewandtheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu dem Land, das auf den Trümmern der Geschichte gebaut wurde, sei ein großes Glück gewesen, sagt sie. Es treffe sie schwer, wenn dieses Glück durch immer offener und häufiger zutage tretende antisemitische Vorfälle bedroht wird. Sie spricht den Judenhass in seiner Breite an – rechtsradikal, linksextrem und islamistisch; auf dem Schulhof und inmitten von Corona-Demos.
bedrohung Deutschland In einem Punkt wird sie sehr deutlich: Die AfD sei gegenwärtig die größte Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland, denn sie bildet in ihren Augen das wirkmächtigste Scharnier für judenfeindliches Denken aus den Extremen in die Mitte der Gesellschaft.
Charlotte Knobloch ist hier – inmitten der Abgeordneten, vor der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten – ganz in ihrem Element; rüttelt auf und überspannt den Bogen dennoch nicht. Sie spricht damit aus, was viele Jüdinnen und Juden in Deutschland umtreibt. Aber ihr geht es nicht mehr nur um die jüdische Gemeinschaft, sondern ihr geht es um das ganze Land, um »ihr« Deutschland. »Passen Sie auf unser Land auf!«, ist der Appell ihrer Rede an die Mandatsträger.
Sie nimmt den Wandel der Deutschen nicht einfach hin, sondern sie ist ihr Gewissen.
Für ihre Verdienste wurde Charlotte Knobloch von diesem Land und seinen Institutionen vielfach geehrt, unter anderem mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Es hat sie nicht verändert und schon gar nicht milde gemacht.
Sie konnte ihr bewegtes Leben von Grund auf nur mit einer großen Ernsthaftigkeit und tiefem Vertrauen in die Zukunft führen, sei die Gegenwart auch noch so instabil und die Vergangenheit noch so dunkel. Die Substanz dieses Vertrauens hat etwas zutiefst Jüdisches, das auch im vor wenigen Tagen zu Ende gegangenen Sukkotfest deutlich wurde. Charlotte Knobloch ist Inspiration und Ansporn für diejenigen, die ihr nachfolgen werden, wo auch immer.