Verschiedene Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Gericht haben in den vergangenen Wochen für Schlagzeilen, allgemeines Kopfschütteln und harsche Kritik gesorgt – und Juden in diesem Land erheblich verunsichert. Dabei muss die mörderische Attacke auf die Synagoge in Halle an dieser Stelle gar nicht erst erwähnt werden, um klarzustellen: Die steigende Dichte und zunehmende Hemmungslosigkeit antisemitischer Angriffe in den vergangenen Wochen und Monaten erschüttern die jüdische Gemeinschaft nachhaltig. Und die jüngsten Entscheidungen der Justiz manifestieren das Gefühl, der Bedrohung schutzlos überlassen zu werden.
Doch sind es unvollkommene Gesetze? Oder ist die deutsche Justiz nicht willens, jüdische Bürger zu beschützen? Ist eine gesetzliche Norm einschlägig, dürfen Gerichte und Staatsanwaltschaften oft nach freiem, aber pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Ein kurzer Blick in die Details der Einzelfälle verdeutlicht dies.
Ist die deutsche Justiz nicht willens, jüdische Bürger zu beschützen?
terrorabsicht Berlin-Mitte: Ein Mann klettert am Freitag vor Jom Kippur über die Absperrung der Neuen Synagoge und bedroht unter »Fuck Israel«- und »Allahu Akbar«-Rufen die Sicherheitskräfte mit einem Messer. Der Täter wird einen Tag später wieder auf freien Fuß gesetzt. Unverständnis, Entsetzen und scharfe Kritik folgen, der Ruf nach einer Verhaftung wird laut, sei doch eine Terrorabsicht nicht auszuschließen.
Eine verlässliche Analyse ist nur nach Einsicht in die Ermittlungsakte möglich, doch kann ein Justizirrtum nicht ausgeschlossen werden: Da der Täter wohl als Flüchtling ohne festen Wohnsitz eingestuft wurde, wäre Fluchtgefahr als Haftgrund einschlägig. Es ist die Bedeutung der Sache in der Gesamtschau, mit der gerade vor dem Hintergrund des Anschlags in Halle und der wachsenden antisemitischen Angriffe eine Untersuchungshaft plausibel begründet werden könnte.
Ein weiterer Fall, diesmal aus Berlin-Wilmersdorf: Ende Juli wird Gemeinderabbiner Yehuda Teichtal bespuckt und antisemitisch beleidigt, als er mit seinem Sohn nach dem Synagogengottesdienst auf dem Heimweg ist. Der Fall erregt großes öffentliches Aufsehen. Der polizeiliche Staatsschutz übernimmt die Ermittlungen. Vier Tatverdächtige werden ausgemacht.
tatverdacht Vergangene Woche wurde bekannt, dass das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Begründung: unzureichender Tatverdacht. Die vier sollen sich geweigert haben, eine Aussage zu machen, unbeteiligte Zeugen gebe es nicht. Sollte dies zutreffen, sind den Ermittlungsbehörden tatsächlich die Hände gebunden: Die Unschuldsvermutung erfordert eine eindeutige Identifizierung des Täters. Dennoch: Dieses Ergebnis hinterlässt eine tiefe emotionale Unzufriedenheit und Verunsicherung.
Es entsteht das Gefühl, der Bedrohung schutzlos überlassen zu werden.
Blicken wir nach Münster: Dort hat das Oberverwaltungsgericht das Verbot der Dortmunder Polizei aufgehoben, im Rahmen einer Demonstration von Rechtsextremisten »Nie, nie, nie wieder Israel« zu skandieren. Die Parole sei zugunsten der Versammlungsfreiheit nicht als antisemitisch einzustufen, könne auch als »Kritik an der Politik des Staates Israel« dem Anliegen der Demonstration dienen.
Der antisemitische Aspekt der Israelkritik blieb dem Gericht trotz intensiver öffentlicher Debatten, zuletzt im Rahmen des BDS-Beschlusses des Bundestags, scheinbar verborgen. Doch gerade hier dürfte es sich um einen Fall wie aus dem Lehrbuch handeln – ein Beispiel für den sich als Israelkritik tarnenden Antisemitismus. Denn welche historischen Ereignisse sollen mit »Nie wieder Israel« bei einer Demonstration mit dem Anliegen »Sicherheit für die Nordstadt« vermieden werden?
holocaust-leugnung Eine ähnliche Entscheidung traf das Verwaltungsgericht Minden: Es hob die Verfügung der Polizei Bielefeld gegen den für den 9. November geplanten Aufmarsch der Partei »Die Rechte« auf, mit dem der Geburtstag der verurteilten Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck gewürdigt und deren Freilassung gefordert werden soll.
Das Gericht befindet: Der Zweck der Demonstration stehe nicht im Gegensatz zum Gedenktag. Diese Begründung erscheint mir nicht nur in ethischer, sondern gerade auch in rechtlicher Hinsicht fehlerhaft. Der Aufmarsch befeuert die Leugnung gerade des Teils der deutschen Geschichte, dessen Anbruch die Reichspogromnacht markiert.
Diese Reihe von Entscheidungen legt zumindest eine mangelnde Sensibilität der Justiz nahe. Richtern, die den Eindruck erwecken, sie würden einem von eigenen politischen Überzeugungen geprägten Begriff des Antisemitismus folgen, der oft den antizionistischen Aspekt aus dem Fokus lässt, sollte eine aktualisierte rechtliche Definition von Judenhass an die Hand gegeben werden – beispielsweise die der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA).
Es ist wichtig, die Taten zu verfolgen, anzuzeigen und den gesellschaftlichen Diskurs weiter zu sensibilisieren.
diskurs Es ist wichtig, auf dieser Grundlage die Taten immer wieder zu verfolgen, anzuzeigen und den gesellschaftlichen Diskurs rund um das Problem weiter zu sensibilisieren.
Die bayerische Staatsregierung fordert inzwischen, das besondere Unrecht antisemitischer Straftaten künftig stärker im Strafgesetzbuch zu betonen. Ziel seien angemessene harte Strafen. Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat jetzt noch einmal deutlich gemacht, dass antisemitische Taten mit aller Konsequenz verfolgt werden müssen. Wir sollten sie beim Wort nehmen.
Die Autorin ist Rechtsanwältin in Berlin.