Im Dezember 2020 wandte sich die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« gegen »missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs«, zu denen es infolge eines Bundestagsbeschlusses komme, in dem dieser die Israel-Boykottkampagne BDS als antisemitisch eingeordnet hatte. Seitdem ist immer wieder eine Behauptung formuliert worden: Es drohe eine Einschränkung der Kunstfreiheit – in den Debatten über Antisemitismus und Kunst.
Lässt man außer Acht, dass es in der empirischen Realität der jüngeren Vergangenheit in Deutschland an Belegen für eine tatsächliche Einschränkung der Kunstfreiheit im Kontext von antisemitischer Kunst mangelt, basiert der Grundgedanke auf mindestens drei folgenschweren Missverständnissen.
argumente Grundsätzlich befremdlich ist zunächst, dass die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit allzu oft bemüht wird, um Kritik an antisemitischer Kunst ohne inhaltliche Argumente abzuwehren – Kunstfreiheit wird damit zu einem inhaltsleeren Konzept: Ohne inhaltliche Argumente zu diskutieren, wird die Debatte auf einen formalen Faktor umgelenkt. Stellungnahmen zur eigentlichen Kritik, ob es sich bei der jeweils kritisierten Kunst um antisemitische Kunst handelt, werden auf diese Weise vermieden.
In die Frage von Kunstfreiheit und Antisemitismus wird implizit eine sachfremde Dimension eingezogen.
Die drei Missverständnisse liegen aber auf anderen Ebenen. Die erste Ebene ist eine grundsätzlich falsche Perspektive, wie man an den Debatten über die documenta, auf der mehrere eindeutig antisemitische Werke ausgestellt wurden, sehen kann. Denn in die Frage von Kunstfreiheit und Antisemitismus wird implizit eine sachfremde Dimension eingezogen: die nach staatlicher Förderung – in finanzieller und/oder räumlicher Perspektive.
Da Kunst stets ihren Eigenwert reklamiert, kann es aber bei der Frage von Kunstfreiheit nicht um einen sakrosankten Anspruch auf staatliche Förderung für jede Form von Kunst gehen. Kunstwerke zu schaffen und sie auszustellen oder Vernissagen zu veranstalten, dies hat mit der Frage staatlicher Förderung wenig zu tun, einzig diskutabel ist der Umgang mit bereits bestehenden vertraglichen Bindungen.
verantwortung Die Erschaffung oder Ausstellung von Kunst staatlich nicht zu fördern, greift insofern nicht in die Kunstfreiheit ein. Einfach gesagt: Wenn keine öffentliche Förderung für antisemitische Kunst erfolgt, sagt das durchaus etwas über Kunstverständnis und künstlerische Verantwortung aus, nicht aber über Kunstfreiheit.
Ohne inhaltlich zu diskutieren, wird die Debatte auf Formales umgelenkt.
Damit verbunden ist die zweite Ebene der Missverständnisse: der weit verbreitete Glaube, Kunstfreiheit sei beliebig und grenzenlos. Im Falle antisemitischer Kunst greift potenziell das Strafrecht, obgleich strafrechtlich ein Großteil antisemitischer Artikulation nicht erfasst ist, das heißt die meisten Formen von Antisemitismus bisher nicht strafbar sind.
Viel entscheidender ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht bereits im Juni 1987 die grundgesetzlichen Grenzen von Kunstfreiheit höchstrichterlich benannt hat. Im seinerzeitigen Verfahren ging es um die karikierende Darstellung eines Politikers als »sich sexuell betätigendes Schwein«, das Verfassungsgericht entschied, dass hier Karikaturen, die in den »geschützten Kern menschlicher Ehre eingreifen, (…) durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht gedeckt« seien.
menschenwürde Die mit der seinerzeit in Rede stehenden Darstellungen vollzogenen »Eingriffe in die Menschenwürde« können »nicht durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt« sein. Die zentrale Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichts war Art. 1 Abs. 1 GG: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«
Und schließlich ist die dritte Ebene der Missverständnisse die kategoriale Ausblendung der jüdischen Perspektive. Während antisemitische Kunst zwar in öffentlichen Debatten kritisiert wird, dies aber zumeist nichts an der Fortführung ihrer Darbietung ändert, verhält es sich mit Blick auf die antisemitische BDS-Kampagne anders: Diese will Einfluss auf Kulturinstitutionen nehmen, indem sie zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler auffordert und zugleich andere Kulturschaffende unter Druck setzt, ihre potenzielle Teilnahme an künstlerischen Veranstaltungen zu revidieren.
Ein Eintreten für Kunstfreiheit ist ausgesprochen kompatibel mit dem Kampf gegen Antisemitismus.
Insofern entsteht die Paradoxie einer öffentlichen Berufung auf Kunstfreiheit, wenn es um antisemitische Kunst geht, bei gleichzeitiger Ignoranz der Kunstfreiheit, wenn diese durch antisemitische Stimmungsmache mit Blick auf jüdische und/oder israelische Künstlerinnen und Künstler tatsächlich bedroht ist.
Ein Eintreten für Kunstfreiheit ist insofern ausgesprochen kompatibel mit dem Kampf gegen Antisemitismus – es bedarf aber der klaren Einsicht, dass Kunstfreiheit und staatliche Förderung einzelner Kunstveranstaltungen nicht verkoppelt sind, dass Kunstfreiheit insbesondere in Relation zu anderen Grundrechten nicht beliebig oder grenzenlos ist und dass Kunstfreiheit eben auch und besonders bedeuten muss, sie vor antisemitischen Einschränkungen zu schützen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler und Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus.