Wenn Cem Özdemir einmal die Woche ins Kanzleramt geht und dort am Kabinettstisch sitzt, denkt er manchmal: »In der ersten Klasse solltest du sitzen bleiben. Bis zur vierten Klasse hattest du in Deutsch eine fünf, in der fünften warst du in der Hauptschule.« Dass er, nach fast 20 Jahren im Bundestag, seit 2021 Minister für Ernährung und Landwirtschaft ist, das ist für den Grünen-Politiker immer wieder »ein wahnsinniges Privileg«.
Seit vergangenem Donnerstag nun ist der 56-Jährige Träger des Leo-Baeck-Preises des Zentralrats der Juden in Deutschland. Und diese Auszeichnung hat Cem Özdemir »in größter Demut« angenommen.
Er verstehe, so twitterte er am Freitagmorgen, den Preis als Auftrag, sich »weiterhin für die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland einzusetzen« und sich »konsequent gegen Antisemitismus zu stellen, egal aus welcher Ecke er kommt«. Und es war, betonte Özdemir in seiner Rede am Donnerstag, der damalige Zentralratspräsident Ignaz Bubis, dessen Worte und Wirken »auch meinen Weg geprägt und sicher auch dazu beigetragen haben, dass ich hier heute vor Ihnen stehe«.
Dank Ausgezeichnet wurde Cem Özdemir für sein »langjähriges, herausragendes Engagement für ein liberales und aufgeklärtes Deutschland«, heißt es in der Preisbegründung. Sein Einsatz gegen Antisemitismus, für freie Religionsausübung sowie sein Einstehen für die jüdische Gemeinschaft und den Staat Israel seien ihm Richtschnur in seinem politischen und gesellschaftlichen Handeln.
Zum ersten Mal erhielt ein Politiker mit muslimischem Hintergrund den Preis.
Zentralratspräsident Josef Schuster betonte bei der Preisverleihung, es sei das erste Mal, dass der Zentralrat der Juden seine höchste Auszeichnung an eine Person mit muslimischem Hintergrund verleiht. Özdemirs Bekenntnis zum »säkularen Islam« stehe in einem größeren Kontext, »dem Kampf gegen die Politisierung des Religiösen, dem Kampf gegen Ausgrenzung und ganz speziell Ihrem Kampf gegen Antisemitismus«.
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sei ihm zu tiefstem Dank verpflichtet. Schuster bezeichnete den Grünen-Politiker als einen Liberalen, Verfassungspatrioten und einen Verteidiger Israels, er sei ein »vehementer Streiter gegen Fanatismus, Ausgrenzung und Antisemitismus sowie für Religionsfreiheit«.
Werte Cem Özdemirs Eltern kamen Anfang der 60er-Jahre als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland und haben sich auch hier kennengelernt. »Ich verdanke meinen Eltern sehr viel. Sie kommen beide aus einfachen Verhältnissen. Sie haben für mich alles Mögliche gemacht, hart gearbeitet, damit es dem Kind mal besser geht.«
Mit einigen Entscheidungen in jungen Jahren habe er es ihnen nicht immer leicht gemacht, sagte der heutige Minister in einem kurzen Filmbeitrag zum Leo-Baeck-Preis, aber das Verhältnis sei sehr innig gewesen: »Wir liebten uns sehr.« In seiner Rede erinnerte sich Özdemir, dass er bei der Auszeichnung mit der Theodor-Heuss-Medaille 1996 sehr nervös war – auch, weil seine Eltern mit im Publikum saßen.
Und es war Ignatz Bubis, der am selben Abend den Theodor-Heuss-Preis erhielt und ihm die Nervosität nahm. »Er legte seine Hand auf meine Schulter, machte einen Scherz und beruhigte mich. Und dann half er mir auch noch beim Binden der Krawatte, weil er es nicht mitansehen konnte, wie ungeschickt ich mich dabei anstellte.«
Haltung Die Medaille erhielt der damals 31-Jährige für die Förderung von bürgerschaftlicher Initiative und Zivilcourage. Der Politiker betonte bei der Verleihung des Leo-Baeck-Preises: »Meine Werte leiten sich aus dem Grundgesetz ab.« Freiheitliche Werte, zu denen auch die Religionsfreiheit gehört, gelte es immer wieder zu verteidigen, so Schuster. Özdemir beweise Haltung. Ganz im Sinne des Namensgebers Leo Baeck, der schrieb: »Wenn den Menschen ein Schicksal trifft, so bleibt ihm eines, wodurch er dem Schicksal begegnen kann: die Haltung. Sie ist der Ausdruck der inneren Festigkeit und Würde.«
Zentralratspräsident Schuster sagte: »Sie haben sich, lieber Herr Bundesminister, Ihre eigene liberale Haltung stets bewahrt, die auch die Religionsfreiheit umfasst. Diese Haltung vertreten Sie auch in Ihrer neuen Funktion, die Sie seit dieser Legislaturperiode innehaben.« Es sei eine Haltung, die sich an der Freiheit orientiere. Eine Haltung, die »das Gespräch, das Einende, immer in den Vordergrund stellt«, wie Schuster betonte.
Haltung – auch gepaart mit Witz und treffenden Formulierungen – bescheinigte Ronya Othmann dem Preisträger in ihrer Laudatio. Cem Özdemir sei aber, so die FAZ-Kolumnistin, »zu sehr Realpolitiker, als dass er glauben würde, dass Sprache allein vermag, die Welt zu verändern. Und als dass er nicht wüsste, dass Worte leerlaufen, zu Hülsen werden können«.
Verantwortung Özdemir habe den Kampf gegen Antisemitismus »zu seiner eigenen Sache gemacht, wie wir ihn alle zu unserer eigenen Sache machen sollten. Er hat eben erkannt, man darf diejenigen, die der Antisemitismus in erster Linie und am meisten trifft, nicht mit ihm alleinlassen. Auch wenn es dann oft heißt, das sei ein Angriff auf uns alle, das mag auch stimmen, doch in erster Linie trifft er Jüdinnen und Juden«, betonte Othmann. Das Erinnern sei bei ihm »nicht Selbstzweck«; es schließe auch eine Verantwortung ein.
Verantwortung, die sich dann zeige, wie Josef Schuster sagte, wenn Cem Özdemir sich vor das Brandenburger Tor stellt und ruft: »Wer Israel angreift, bekommt es mit Deutschland zu tun.« So geschehen im Frühjahr 2021, »als die palästinensische Terrororganisation Hamas Hunderte von Raketen auf Israel schoss und dies hier in Deutschland bedauerlicherweise zu zahlreichen Demonstrationen gegen Israel und gegen Juden bis hin zu Ausschreitungen führte«.
»Das Erinnern ist bei Cem Özdemir kein Selbstzweck.«
Laudatorin Ronya Othmann
Man habe, sagte Schuster, »dieses Bekenntnis mit Dankbarkeit vernommen – genauso wie Ihre deutliche Kritik am sogenannten Apartheid-Report von Amnesty International. Wenn es dieser Tage Literaturnobelpreisträgerinnen gibt, die sich die antisemitischen Dämonisierungen, Israel als einen ›Apartheidstaat‹ zu bezeichnen, zu eigen machen, ist Ihre klare Haltung ein wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein«.
herausforderungen Eine Gesellschaft, die dieser Tage vor vielen Herausforderungen steht und die die Kraft aufbringen muss, in Krisen zusammenzustehen, so Schuster. »Ich habe große Sorge vor einem wachsenden Antisemitismus in diesem Winter, der nicht nur für die Jüdinnen und Juden in Deutschland gefährlich werden würde, sondern für unsere Gesellschaft als Ganzes.«
Darauf zu vertrauen, dass »eine liberale Demokratie aufgrund ihrer bloßen Existenz überzeugt und den moralisch unzerstörbaren Kitt einer Gesellschaft bildet«, das wäre falsch, sagte Cem Özdemir in seiner Rede. Einer Rede mit Haltung.
Auf Cem Özdemir, resümierte Laudatorin Ronya Othmann, könne man sich verlassen. Er bleibe der Pragmatiker und Realpolitiker, der er sei. »Gegen jeden Antisemitismus ist bei Cem Özdemir auch wirklich gegen jeden Antisemitismus.« Das verbinde ihn mit den vielen vor ihm ausgezeichneten Preisträgerinnen und Preisträgern wie Mathias Döpfner, Angela Merkel, Ralph Giordano, Iris Berben oder Johannes Rau. Haltung eben.