Verletzendes Verhalten, Bedrohungen, Angriffe, Gewalt: Für das vergangene Jahr hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) 2738 judenfeindliche Vorfälle in Deutschland erfasst. Damit stieg die Zahl im Vergleich zu 2020, als die einzelnen Rias-Meldestellen bundesweit 1957 Ereignisse registriert hatten, dramatisch.
Die Experten rechnen außerdem mit einer hohen Dunkelziffer. Das geht aus dem Jahresbericht des Rias-Bundesverbandes hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach ist der Anstieg zum Teil auf eine veränderte Datengrundlage zurückzuführen.
Die Präsentation des Jahresberichts fand in Anwesenheit von Benjamin Steinitz, dem geschäftsführenden Vorstand des Bundesverband Rias, statt. Er verwies auf die antisemitischen Werke auf der documenta, um zu versinnbildlichen, wie verwoben verschiedene Formen von Judenhass oft sind.
»Der Antisemitismus auf der documenta veranschaulicht, dass israelbezogener Antisemitismus auf ganz klassische antisemitische Stereotype zurückgreift«, sagte Steinitz. In diesem Zusammenhang verwies er auch darauf, dass die antisemitische BDS-Bewegung ein »Einfallstor für offen antisemitische Positionen« sei.
Ebenfalls anwesend war Marina Chernivsky, Geschäftsführerin der Antisemitismus-Beratungsstelle OFEK e.V. Sie nannte die Zahlen einerseits »sehr beunruhigend«, andererseits aber auch »wenig überraschend«. Für Chernivsky, die auch die Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland ist, zeigen die Ergebnisse des Berichts das antisemitische »Grundrauschen, das die jüdische Gemeinschaft umgibt«.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnt: »Die stetig steigende Zahl antisemitischer Vorfälle macht seit einigen Jahren eine Enthemmung in Teilen der Bevölkerung sichtbar. Antisemitische Haltungen werden immer häufiger ohne Scheu offen artikuliert, sowohl im Netz als auch auf der Straße.«
Das wurde etwa bei den Demonstrationen der Corona-Leugner und Impfgegner deutlich, betonte Schuster. Diese Enthemmung sei ein gefährlicher Nährboden, denn aus Worten werden Taten. Die erschreckend hohe Zahl extremer antisemitischer Gewalttaten im Berichtsjahr 2021 sei daher kein Zufall. »Wir brauchen die langfristige politische Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie flächendeckend Fortbildung bei Polizei und Justiz, um den Antisemitismus in der Gesellschaft zu erkennen, zu ahnden und endlich wieder zurückzudrängen«, fordert der Zentralratspräsident.
In dem Rias-Bericht wird betont, dass die Zahl der registrierten Vorfälle, die nicht in jedem Fall strafbar sind, statistisch nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung seien: »Ziel des vorliegenden Berichts ist es vielmehr, die alltägliche Dimension von Antisemitismus in Deutschland zu verdeutlichen.« Im Mai hatte das Bundeskriminalamt einen starken Anstieg antisemitischer Straftaten für 2021 um 29 Prozent auf den Höchststand von 3027 Delikten bekanntgegeben.
»Wir brauchen die langfristige politische Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie flächendeckend Fortbildung bei Polizei und Justiz.«
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden
Laut dem Rias-Bericht prägten das Gesamtbild vor allem die Proteste gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Diese Proteste seien besonders für Anhänger des verschwörungsideologischen Spektrums »vielfach ein Anlass für antisemitische Äußerungen oder Handlungen« gewesen. Hinzu sei der Nahostkonflikt von Mai 2021 gekommen, der auch zu judenfeindlichen Beleidigungen oder Bedrohungen sowie Angriffen geführt habe. Auch rund um Gedenktage sei erneut eine Vielzahl an Vorfällen registriert worden.
Antisemitismus äußerte sich laut Bericht »häufig niedrigschwellig, mitunter aber auch extrem gewaltförmig«. Demnach dokumentierten die Meldestellen sechs Fälle extremer Gewalt. Fast die Hälfte aller 13 seit 2017 bekannt gewordenen Fälle von extremer Gewalt hätten sich 2021 ereignet. Abseits davon würden Juden in Deutschland »in ganz alltäglichen Situationen mit verletzenden antisemitischen Bemerkungen konfrontiert«.
Die Experten rechnen mit einer hohen Dunkelziffer.
Am häufigsten erfassten die Meldestellen laut Bericht verletzendes Verhalten mit 2182 Vorfällen. Darüber hinaus gab es demnach 101 Bedrohungen, 204 gezielte Sachbeschädigungen, 182 Massenzuschriften und 63 Angriffe. Von den betroffenen Institutionen seien es am häufigsten jüdische und israelische (521 Fälle) gewesen. Dieses Bild ergebe sich auch bei den betroffenen Einzelpersonen mit 518 Fällen. Allerdings seien auch Nichtjuden und nichtjüdische Einrichtungen zur Zielscheibe geworden.
Die häufigsten Tatorte waren dem Bericht zufolge erneut das Internet und die Straße. Was den politisch-weltanschaulichen Hintergrund von Vorfällen angeht, stiegen antiisraelischer Aktivismus auf 9 Prozent (2020: 4) und verschwörungsideologisches Milieu auf 16 Prozent (2020: 13). Gesunken sei der Anteil von rechtsextrem/rechtspopulistisch auf 17 Prozent (2020: 25). In vielen Fällen ist der Hintergrund laut Bericht jedoch unbekannt.
In den Bericht für 2020 sind Daten aus vier regionalen Meldestellen eingeflossen, jetzt seien es bereits acht gewesen.
Der Jahresbericht beruht auf Meldungen von Betroffenen oder Zeugen beziehungsweise Organisationen an den Bundesverband von Rias oder Meldestellen, die es in einigen Bundesländern gibt. Der Bericht berücksichtigt erstmals Daten von drei neuen Meldestellen. »Es ist davon auszugehen, dass aufgrund der Arbeit dieser Meldestellen mehr Vorfälle aus den jeweiligen Regionen bekannt wurden«, heißt es. In den Bericht für 2020 seien Daten aus vier regionalen Meldestellen eingeflossen, jetzt seien es bereits acht gewesen.
Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, war ebenfalls bei der Vorstellung des Berichts anwesend. Für ihn seien die hohen Zahlen antisemitischer Vorfälle erschreckend. Gleichzeitig »bedeuten sie indirekt auch einen Erfolg«. Durch zusätzlich Meldestellen und eine erhöhte Bereitschaft der Betroffenen, Vorfälle auch zu melden, ergebe sich »ein realistischeres Lagebild«.
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