Naomi Henkel-Guembel war an Jom Kippur 2019 in der Synagoge von Halle, als sie einen Knall hörte. Dem Angreifer gelang es nicht, das Gotteshaus zu betreten. Daraufhin ermordete er zwei Menschen auf der Straße und in einem Imbiss.
Nach dem Anschlag baute Naomi Henkel-Guembel das Resilience Festival mit auf, das gerade in Berlin stattfindet. Wie geht es ihr heute?
Frau Guembel, heute vor vier Jahren versuchte ein Rechtsextremist die Synagoge in Halle zu stürmen, um möglichst viele Juden zu ermorden. Wenn Sie zurückblicken, wie lang kommt Ihnen diese Zeit vor? Und wie steht es um die Verarbeitung des Angriffs? Wie weit sind Sie damit gekommen?
In manchen Momenten erscheint mir der Tag des Anschlages weit entfernt und in anderen allgegenwärtig. Dies hängt nicht zuletzt mit verschiedenen Entwicklungen zusammen, die sich seitdem zugetragen haben. Die Vernetzung von Betroffenen rechter Gewalt untereinander und die gegenseitige Solidarität hat in diesen Jahren stark zugenommen. Die Kraft, die ich, die nicht wenige von uns aus diesen Treffen und aus diesem Austausch ziehen, hilft bei der Aufarbeitung. Wir stehen für einander ein und wollen zu mehr Sichtbarkeit beitragen und gleichzeitig auf gesellschaftliche, politische und behördliche Fehlstellungen aufmerksam machen. In Momenten des Zusammenhalts liegt mein Fokus auf der Resilienz, die ich seitdem entwickelt habe. Da kommt mir der Anschlag weit weg vor.
Es gibt aber auch Zeiten, in denen genau das Gegenteil der Fall ist. Zum Beispiel wenn der Rechtsruck allen voran in Deutschland diskutiert wird, und es so wirkt, als ob dieses Land bereits verloren ist und es keinen Anlass zur Hoffnung mehr gibt. In solchen Momenten ist der Anschlag, seine Auswirkungen und der Gerichtsprozess gegen den Attentäter präsenter. Wenn von rechten Strukturen innerhalb der Polizeibehörden, innerhalb der Bundeswehr, die Rede ist, wenn die AfD weiter an Sympathie innerhalb der Mehrheitsgesellschaft gewinnt - dies sind nur einige wenige Beispiele für Situationen, Diskussionen und Thematiken, die den Anschlag präsenter werden lassen.
Wie geht es Ihnen heute generell?
Mein Leben hat nach dem Anschlag eine sehr andere Richtung eingeschlagen, als ich erwartet hatte. Ich bin nach Deutschland gekommen, um mich als Rabbinerin ausbilden zu lassen. Nach dem Anschlag war mein Glaube in seinem Fundament erschüttert. Wie geht man mit der Spannung um, dass wir überlebt haben, aber zwei Menschen, Jana Karin Lange und Kevin Schwarze, am höchsten jüdischen Feiertag ermordet wurden? Ich habe lange mit diesen Fragen gerungen. Meine damalige Ausbildungsstätte bot mir keine spirituelle Begleitung und Aufarbeitung an, die ich aber dringend gebraucht hätte. Ich wollte doch schließlich Rabbinerin werden. Rabbinerin in Deutschland. Und das, was ich erlebt hatte, war ein Anschlag auf eine Synagoge in Deutschland, an Jom Kippur. Ich war in weiten Teilen auf mich allein gestellt. Ein Hemingway-Zitat fällt mir dazu ein: »Die Welt zerbricht jeden, und danach sind einige an den zerbrochenen Stellen erstarkt.«
Mittlerweile bin ich hauptsächlich in Tel Aviv und arbeite als Verhaltenstherapeutin. Die Arbeit mit Betroffenen von Anschlägen, mit Menschen, die Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, wie auch das Engagement im Netzwerk Betroffener rechter Gewalt, helfen mir dabei, Bedeutung in der Schwere dieses Ereignisses zu finden. Durch diese Arbeit finde ich auch zu neuer Stärke im Umgang mit den Narben, die wir von diesem Anschlag tragen. Ich möchte nach wie vor Rabbinerin werden und ein Vorbild sein. Ich möchte, dass diese Erfahrungen mich in dieser Funktion - aber auch als Mensch - stärken und festigen, sodass ich diese Kraft an andere weitergeben kann.
Wie geht es den anderen Überlebenden, mit denen Sie in Kontakt stehen? Verarbeiten sie weiterhin Traumata? Wie schwierig ist dies?
Es ist vorab wichtig zu verstehen, dass die Betroffenen des Anschlags sehr diverse Backgrounds hatten. Manche sind in der Region geboren und aufgewachsen, andere sind nach Deutschland geflüchtet und mehr oder weniger durch Zufall in Halle gelandet, wieder andere sind nach Deutschland gekommen, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Und nicht zuletzt waren da auch wir, die von Base Berlin, jetzt Hillel Deutschland, kamen und hauptsächlich junge Juden und Jüdinnen sind, viele aus dem englischsprachigen Raum, die in Berlin leben und die Großstadt verlassen wollten.
Mittlerweile sind wir in der ganzen Welt verstreut. Der Umgang mit dem Anschlag schwankt und hängt zum einen mit den individuellen Biografien, zum anderen aber auch mit den jeweiligen Umständen zusammen. Es gibt Momente, in denen es uns besser geht und dann jedoch auch Rückschläge. Das Erlernen des Umgangs mit dem Anschlag wird ein lebenslanger Prozess bleiben.
Damals, am 9. Oktober 2019: In welchem Moment merkten Sie, dass es um Leben und Tod ging? Wie haben Sie dann reagiert?
Der erste Knall. Der hat mich erstmal wach gerüttelt. Davor war ich von Müdigkeit und Kopfschmerzen geplagt - wie das eben so sein kann an Jom Kippur, wenn man fastet. Mit dem Knall war mir sofort klar, dass das gegen uns gerichtet ist, dass dieser antisemitischer Natur ist. Ich vermutete jedoch, dass Jugendliche ein paar Böller geschmissen hätten. Dass da jemand vor der Tür steht und ein Massaker anrichten will, habe ich erst viel später verstanden – anders als manche andere im Raum. Es setzt mir teilweise bis heute noch zu, dass ich nicht einordnen konnte, was da passiert ist, dass ich bis zur Evakuierung versucht habe, die Geschehnisse für mich herunterzuspielen, zu rationalisieren.
Mittlerweile weiß ich, dass das eine nicht unübliche Reaktion auf ein traumatisches Ereignis ist. Es geht dabei ums pure Überleben. Ich wollte einfach meinen Kopf über Wasser halten, ohne zu verstehen, dass ich gerade gegen das Ertrinken ankämpfe. Jemand von den in der Synagoge Anwesenden hat ein Buch von Rabbiner Alan Lew gelesen, das den Titel »This Is Real and You Are Completely Unprepared« trägt. Der Titel trifft das sehr gut - das war alles sehr real und wir waren in der Tat sehr unvorbereitet.
Was haben Sie als Konsequenz aus dem Anschlag von Halle in Ihrem Leben geändert? Hat sich Ihr Denken verändert?
Ich fühlte mich auf gewisse Weise getäuscht nach dem Anschlag. Damit meine ich, dass ich ja mit dem Rabbinatsstudium und mit meinem Engagement in der jüdischen Community in Berlin dem Land nochmal eine Chance geben wollte. Ich war ja nach dem Abitur nach Israel ausgewandert. Als ich zurückkam, hatte ich auch eine Reihe von positiven Erfahrungen - innerhalb und außerhalb der jüdischen Community. Diese wurden jedoch später von dem Anschlag überschattet. Seit dem Anschlag ist mir viel daran gelegen, hinzuschauen, wenn Missstände bestehen, aktiv zu werden und diese Zustände anzugehen. Man darf dabei aber auch nicht vergessen, dass das Erwirken von Veränderung, vor allem wenn diese nachhaltig sein soll, etwas ist, das Zeit braucht.
Veränderung bedeutet Lernen, und Lernprozesse geschehen nicht von heute auf morgen. Ich glaube an diverses Leben im Deutschland der Gegenwart und in der Zukunft. Ich bin überzeugt, dass wir alle einen Platz hier haben - jedoch muss sich dafür auch einiges ändern, damit dies auch tatsächlich möglich ist. Diese Bemühungen können zermürbend sein. Es ist dabei wichtig, seine eigene mentale Gesundheit nicht aus den Augen zu verlieren, sicherzugehen, dass man kein Burn-Out erleidet, und sich Mitstreiter zu suchen. Denn nur zusammen können wir gewinnen.
Was empfehlen Sie Juden, jüdischen Gemeinden und Communities in Zusammenhang mit dem Aspekt Sicherheit?
Catherine De Bolle, die Direktorin des Europäischen Polizeiamtes, hat mal gesagt, dass »Terroristen […] nicht nur Töten zum Ziel [haben], sondern auch unsere Gesellschaften zu spalten und Hass zu schüren. Das Gefühl der Unsicherheit, das Terroristen beabsichtigen, zu erwecken, muss für uns Anlass zu tiefster Sorge sein.«
Es gibt zwei Punkte, die ich gerne aufgreifen möchte: Die reale Gefahrenlage für uns als Community, aber auch als Individuen, wie auch das Gefühl der Unsicherheit von uns als Community sowie auf individueller Ebene. Es ist unmöglich, beides voneinander zu trennen. Um jedoch auf Sicherheit hinzuarbeiten, ist es essenziell, benennen zu können, welche Faktoren genau zu einem Gefühl der Unsicherheit führen. Das allein wird das Problem von mangelnder Sicherheit nicht aus der Welt schaffen, aber es bietet den Anfang eines Handlungsplans.
Sie haben das andauernde »Resilience Festival« mit aufgebaut. Warum ist Resilienz gerade in unserer Community wichtig?
Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass es die Bausteine der Resilienz in unserer Tradition sind, weshalb wir immer noch existieren und weiterhin existieren werden, solange wir diese nicht aus den Augen verlieren. Resilienz ist im Duden als »psychische Widerstandskraft« definiert, welche sich in der Theorie auf sieben Säulen stützt. Von diesen sieben sehe ich vor allem drei als unabdingbar in der jüdischen Tradition: Enge Bindungen, Akzeptanz und Optimismus. Nicht umsonst brauchen wir für bestimmte Rituale einen Minjan, nicht umsonst gibt es immer wieder Phasen im jüdischen Jahreszyklus, die uns dazu anhalten, Frieden zu schließen, mit Umständen, die wir nicht ändern können. Und zu guter Letzt erinnert uns die Torah in ihrer ganzen Essenz daran, dass das Leben - ob individuell oder kollektiv - von Tiefen und Höhen geprägt ist. Es ist wahrlich nicht immer einfach, sich aus Tiefen herauszuwinden, aber wenn man es schafft, erreicht man neue Höhen. Wir finden das wieder und wieder in der jüdischen Geschichte.
Geht es da mehr um die Anpassungsfähigkeit oder die Widerstandsfähigkeit? Beide Fähigkeiten werden ja vom Wort Resilienz abgedeckt. Und wie können wir dafür sorgen, dass wir Resilienz aufbauen?
Ich denke, es geht vor allem darum, nicht aufzugeben und nach neuen Wegen zu suchen. Manchmal fordern unsere Umstände es, dass wir uns anpassen, manchmal, dass wir Widerstandsfähigkeit zeigen. Es gibt einen Imperativ in der Torah, der uns dazu anhält, über unsere Erfahrungen, über das Erlebte zu reden: »Nur hüte dich für dich und hüte deine Seele sehr, dass du die Tatsachen nicht vergessest, die deine Augen gesehen, und dass sie nicht aus deinem Herzen weichen alle Tage deines Lebens, und bringe sie deinen Kindern zur Erkenntnis und deinen Kindeskindern.« Das ist Devarim 4:9.
Als Therapeutin und Überlebende eines Anschlags erachte ich es als essenziell, Räume zu schaffen, in denen das Teilen von Erfahrungen möglich ist, in denen wir uns mit Empathie, mit Wohlwollen begegnen, anstatt mit Ressentiments und Antipathie.
Wie würden Sie die Idee des Festivals definieren?
Ein Kernaspekt des Festivals ist es, sich von Trauer hin zu Freude zu bewegen. Während dieser Bogen bekannt ist in der jüdischen Tradition, mag es sich in einem nicht-jüdischen Kontext vielleicht sogar taktlos anhören. Es ist jedoch ein Abbild des Lebens. Wir durchlaufen Momente tiefster Trauer und Rückschläge. Gleichzeitig gibt es aber auch Momente der Freude, der Glückseligkeit - keine dieser Emotionen existiert in einem Vakuum.
Wir laden zudem jedes Jahr Speakerinnen, Musikerinnen, Künstlerinnen und Unterstützerinnen inner- und außerhalb der jüdischen Community ein, teilzuhaben an dem Festival of Resilience. Ich würde sagen, dass wir mit dem Festival einen Beitrag dazu leisten, Erinnerung neu zu denken und zu gestalten. Gleichzeitig ist es mir auch wichtig, zu erwähnen, dass wir auch Inspiration von andernorts genommen haben - ob es die Möllner Rede im Exil ist, welche an den Brandanschlag auf eine türkisch-stämmige Familie 1992 erinnert, oder das Teilen des Erlebten von Shoah-Überlebten.
Welche Programmpunkte sind für Sie die Highlights des Festivals?
Das Festival findet dieses Jahr an drei unterschiedlichen Orten statt: Berlin, Halle und Stuttgart. Resilienz ist eben nicht ortsbegrenzt. Das spiegelt sich auch in dem Thema des diesjährigen Festivals wider: »In/Sight« - was sowohl »Einsicht« bedeuten kann, aber auch »in Sichtweite«.
Die Ceremony of Resilience ist wohl mein persönliches Highlight. Wir haben dieses Jahr Jessica Chaim, die auch an Jom Kippur in der Synagoge von Halle war, als Keynote-Speakerin aus New York eingeladen - wie auch Ismet Tekin, der für den Tekiez, welcher mittlerweile ein Begnungsort ist, verantwortlich ist. Die musikalischen Beiträge zeichnen sich durch ihre Vielseitigkeit aus.