Ausgerechnet Willy Brandt. Da kniet ein deutscher Kanzler 1970 vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal, und dabei war er damals, als alles passierte, weder Nazi noch Deutscher.
Als Deutsche im September 1939 Polen überfielen, war Willy Brandt kein Deutscher. Als sie das Warschauer Ghetto errichteten, die Große Synagoge sprengten, als sie die Bewohner des Ghettos nach Treblinka deportierten oder gleich an Ort und Stelle erschossen: Auch da war Brandt kein Deutscher. Die Nazis hatten ihm die Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 entzogen. Zwei Jahre blieb er ein staatenloser Flüchtling im Exil, bis Norwegen ihn einbürgerte.
Und nun? Bekenne sich Brandt »zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf«, schrieb ein Reporter des »Spiegel«. Es war die größte Geste seiner Amtszeit.
Als erster Regierungschef fuhr er nach Israel, als Widerständler kniete er vor der deutschen Schuld.
Am 21. Oktober 1969, vor 50 Jahren, begann die Kanzlerschaft von Willy Brandt. Sie dauerte nur viereinhalb Jahre. Aber weil Brandt als Kanzler so raumgreifend agierte, weil er Widersprüche so rasch zu überbrücken suchte – und andere verdrängte –, schien er seiner Zeit voraus zu sein.
Vom Exil in Norwegen bis zum Kanzleramt war es für den 1913 als Herbert Frahm geborenen Brandt ein weiter Weg. Kurz nach der »Machtergreifung« lässt sich der 19-jährige unter dem Decknamen Willy Brandt auf einem Fischerboot nach Dänemark bringen. Vom norwegischen Exil aus koordiniert er den Widerstand von Sozialisten und Sozialdemokraten, als Journalist schreibt er gegen die Nationalsozialisten an. 1946 kehrt er nach Deutschland zurück.
Ein Jahr nach seiner Wiedereinbürgerung im Jahr 1948 gelingt ihm der Einzug in den ersten Bundestag. 1957 wird er Regierender Bürgermeister von Berlin. Den Mauerbau nennt er »den bisher schwärzesten Tag« seiner Amtszeit.
Als Brandt 1966 Außenminister in der Großen Koalition wird, dient er unter Kurt Georg Kiesinger, einem ehemaligen NS-Propagandisten mit Parteiabzeichen. Drei Jahre später schwört Brandt, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, den Amtseid auf die Verfassung. Kiesinger galt als »wandelnder Vermittlungsausschuss«. Brandt hatte Größeres im Sinn.
Die Nazis hatten ihm die Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 entzogen. Zwei Jahre blieb er ein staatenloser Flüchtling im Exil.
»Wir wollen mehr Demokratie wagen«, verkündet er in seiner ersten Rede als Kanzler. Es ist der wohl wichtigste Satz in der Regierungserklärung. Das wichtigste Wort aber, das kontroverseste auch, hat nur drei Buchstaben: DDR. Unter seinen Vorgängern hieß sie meist »Zone«, in allen Variationen. Wer sie als Staat anerkannte, dem versagte die Bundesrepublik die Freundschaft.
Brandt aber nennt die DDR beim Namen, und das gleich sieben Mal. »Unruhe bei der CDU/CSU«, notieren die Stenografen. Ein halbes Jahr später fährt Brandt mit der Bahn nach Erfurt – und wird, als erster Kanzler im Osten von Tausenden bejubelt.
Brandts Wille zur Versöhnung reicht noch weiter nach Osten. Im Dezember 1970 besucht er Warschau, um faktisch die Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und Deutschland anzuerkennen. Für viele ein Verrat, nicht nur für Vertriebene, die Schlesien, Ostpreußen, Pommern nicht verloren geben wollen. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, schrieb Brandt in einem Brief an Marion Gräfin Dönhoff, die ehemalige Chefredakteurin der »Zeit«.
In Warschau kommt es zu dem Bild, das um die Welt geht: der lange Mantel, der regennasse Stein, die Fotografen, die sich fast überschlagen. Brandt weiß, dass Sühne und Versöhnung nah beieinanderliegen. Vielleicht ist es auch typisch für die Geschichte der Bundesrepublik: Ein Sozialdemokrat führt Hartz IV ein, eine Christdemokratin setzt die Wehrpflicht aus. Da muss es eben ein Widerständler sein, der am Gedenkort für Opfer der Nazis kniet.
Brandts Versöhnungsreisen finden weltweit Resonanz. Das US-Magazin Time ernennt ihn zum Man of the Year 1970. Im Dezember 1971 dann die größte Ehrung: der Friedensnobelpreis.
Brandt bekenne sich »zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf«, der »Spiegel«.
»Deutschland hat sich mit sich selbst versöhnt, es hat zu sich selbst zurückgefunden«, sagt Brandt am Tag darauf, »so wie der Exilierte« – er meint sich selbst – »die friedlichen und menschlichen Züge seines Vaterlandes wiederentdecken durfte.« Fast sein gesamtes Preisgeld spendet Brandt für die Renovierung einer italienischen Synagoge.
Vom Geist der Versöhnung lassen sich zuhause nicht alle anstecken. Die Enttäuschung der Vertriebenen über seine Ostpolitik holt Brandt bald ein. Mehrere Abgeordnete der Koalition wechseln aus Frust in die CDU. Die sozialliberale Mehrheit erodiert.
Im April 1972 fühlt sich der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel gewappnet, Brandt mit einem Misstrauensantrag zu stürzen. Doch der Oppositionsführer hat die Rechnung ohne die DDR gemacht – im wahrsten Sinne des Wortes. Zwei Stimmen fehlen am Ende zur Abwahl Brandts.
Erst Jahre später wird enthüllt, dass die Stasi mutmaßlich zwei Abgeordnete der Unionsfraktion mit je 50.000 Mark bestochen hatte. Über die intern »Unternehmen Brandtschutz« genannte Operation bemerkt DDR-Regierungschef Erich Honecker spöttisch, man sei wohl der »stärkste Helfer« der Regierung Brandt.
Damit hatte eine deutsche Regierung auch das erste Misstrauensvotum überstanden. Die stabile Mehrheit im Parlament aber war offenkundig dahin. In vorgezogenen Neuwahlen 1972 triumphiert Brandt. »Wir können stolz sein auf unser Land« plakatiert die SPD. Zum ersten Mal in der Geschichte holen die Sozialdemokraten mehr Stimmen als die Union. Die Zahl der SPD-Mitglieder wächst bald auf mehr als eine Million.
Und ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte betritt 1973 ein Bundeskanzler israelischen Boden, wenige Monate später auch die Bühne der Vereinten Nationen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Brandt später ausgerechnet über einen Stasi-Spion stürzt. Allzu produktiv war der enttarnte Günter Guillaume zwar nicht. Manch einer aber hielt Brandt für erpressbar, weil Guillaume als sein persönlicher Referent von seinen Affären wusste.
Aber es ist wohl auch Amtsmüdigkeit, die ihn aus dem Palais Schaumburg in Bonn treibt. Brandt hält bei seinem eigenen Tempo nicht Schritt. »In Wirklichkeit war ich kaputt«, schreibt er kurz nach seinem Rücktritt.
Fast sein gesamtes Preisgeld spendete Brandt für die Renovierung einer italienischen Synagoge.
Anders als Adenauer fängt Brandt nach seiner Amtszeit als Kanzler nicht etwa an, Rosen zu züchten. Sein Garten bleibt die Politik: als Parteichef bis 1987, als Mitglied des Bundestags bis zu seinem Tod 1992. Als Vorsitzender der SPD ist er für Kanzler Helmut Schmidt nicht immer eine Stütze. Schmidt trommelte für den Nato-Doppelbeschluss, Brandt wirbt für eine Annäherung an die – teils pazifistischen – Grünen.
»Die Nazis versuchten, Europa zu verdeutschen. Jetzt kommt es darauf an, Deutschland zu europäisieren«, schrieb Brandt ein Jahr nach dem Krieg. Als Abgeordneter im ersten direkt gewählten Europaparlament setzt sich Brandt ab 1979 für eine engere europäische Zusammenarbeit ein.
An die Deutsche Einheit glaubt selbst er Ende der 1980er erst, als sie abzusehen ist. Den ersten Bundestag des vereinten Deutschlands eröffnet er als Alterspräsident. Ein Jahr vor seinem Tod stellt er schließlich im Parlament einen Antrag, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen - wohl auch damit, wie er es schon in den 1950ern formulierte, »zusammenwächst, was zusammengehört«.