Meinung

Mehr Schläge als Rat?

Josep Borrell Foto: IMAGO/Le Pictorium

Sicher, Josep Borrell hatte noch nie einen einfachen Job. Der Hohe Beauftragte der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik wäre gern so etwas wie der Außenminister der EU. In Wahrheit ist er ein König ohne Staat, ein Minister mit 28 Vorgesetzen. Neben den 27 Außenministern der EU-Staaten, die in Brüssel in der auswärtigen Politik das letzte Wort haben, muss er auch noch auf die Ansichten von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Rücksicht nehmen, deren Stellvertreter Borrell ist.

Daran gemessen hat Borrell sich einen ziemlichen Freiraum verschafft. In rhetorischer Hinsicht zumindest. Im letzten Jahr seiner fünfjährigen Amtszeit wird der Spanier zusehends eigensinniger.

Am Montag veröffentlichte die »Financial Times« einen Gastbeitrag Borrells, der gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch ist. Darin wiederholt der Außenbeauftragte sein Mantra, dass nur die Schaffung eines palästinensischen Staates und ein Ende der Siedlungen im Westjordanland Israel Sicherheit bringen könne.

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»Unsere politische Kurzsichtigkeit, diesen Konflikt durch Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung für beherrschbar zu halten und ihn dann weiter schwelen zu lassen, muss ein Ende haben. Nicht nur aus Gründen der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit oder der Moral, sondern auch, weil er, wenn wir ihn jetzt nicht lösen, die Vertreibung von Menschen, auch in Richtung Europa, auslösen und die Gefahr von Terrorismus und Spannungen zwischen den Gemeinschaften verschärfen könnte«, schreibt Borrell.

Und verwendet sogar das N-Wort: »Wie einer meiner Gesprächspartner letzte Woche sagte, werden wir eine weitere Nakba nicht überleben.« Damit macht sich der Spanier die These einiger Linker im Westen zu eigen, das eigentliche Kriegsziel Israels sei nicht die Vernichtung der Hamas, sondern die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza. Ein ungeheuerlicher Vorwurf. Borrell fügt noch warnend hinzu: »Europa und die internationale Gemeinschaft werden und können eine weitere erzwungene Massenvertreibung von Palästinensern nicht akzeptieren.«

Den Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober, den er ein »Blutbad« nennt, stellt er in eine Reihe mit, so wörtlich, »einem weiteren Blutbad mit mehr als 13.000 Opfern, vor allem Frauen und Kinder, sowie Angriffen israelischer Siedler im besetzten Westjordanland und in Ost-Jerusalem«. Auch diese Wortwahl ist kaum zufällig. Ohne Ursache und Wirkung zu nennen und nur unter Nennung der (nicht verifizierten) Opferzahlen suggeriert Borrell, dass beide Seiten, Hamas und Israel, vorsätzlich Massaker anrichten. Nur die Palästinensische Autonomiebehörde verschont der EU-Politiker mit Kritik – auch das ein Statement.

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In einem Post auf X (ehemals Twitter) legte er am Montagvormittag sogar noch eine Schippe drauf. »Ich bin entsetzt, dass die israelische Regierung mitten im Krieg neue Mittel für den Bau weiterer illegaler Siedlungen bereitstellen will. Das ist keine Selbstverteidigung und wird Israel nicht sicherer machen. Die Siedlungen stellen einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar und sind Israels größtes Sicherheitsrisiko.«

Von der Befreiung einiger Geiseln in den letzten Tagen erhofft Borrell sich hingegen »eine positive Dynamik« hin zur »Beendigung der Feindseligkeiten«. Er weiß es selbst, das ist ein frommer Wunsch. Und doch schaltet er gleich wieder in den Angriffsmodus: »Jede Seite betrachtet nur ihre eigene Seite der Tragödie, das, was gestern geschah, oder das, was heute geschieht. Aber es wird ein Morgen geben, das sich keine der beiden Seiten vorzustellen vermag. Die Israelis glauben, dass sie die Hamas ausschalten müssen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Für die Palästinenser hat die Beendigung der humanitären Katastrophe im Gazastreifen und der Provokationen der Siedler Priorität.«

Dass die Israelis dies nach den Erfahrungen mit der Hamas in den letzten drei Jahrzehnten, und spätestens seit dem 7. Oktober, glauben, liegt auf der Hand. Aber glaubt es der EU-Außenbeauftragte etwa nicht? Will er keine Ausschaltung der Hamas?

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Seit den Zeiten des Philosophen Thomas Hobbes, schreibt Borrell, wisse man doch, dass eine Gesellschaft ohne einen Leviathan, einen Staat, zu Gewalt und Chaos verdammt ist. Es dürfe daher kein Machtvakuum geben. Und dann der entscheidende Satz: »Wenn weder die Hamas noch Israel den Gazastreifen regiert, und das sollte auch keiner von beiden, wird das Machtvakuum schnell von unkontrollierten Kräften gefüllt werden, die den Gazastreifen in ein Failed Territory verwandeln und einen neuen Kreislauf von Gewalt und Terrorismus in Gang setzen könnten.« Das könne dann zu Flüchtlingsströmen auch Richtung Europa führen.

Unwillkürlich fragt man sich: War der Hamas-geführte Gazastreifen vor dem 7. Oktober denn kein »Failed Territory«?

Um zu verhindern, dass der Gazastreifen in die Hände »unkontrollierter bewaffneter Gruppen« falle, müsse der Küstenstreifen »von einem Staat regiert werden, der seine Bevölkerung vertritt«. Wer in diesem Staat dann das Sagen haben und ob er demokratisch sein wird, das sagt Borrell nicht. Stattdessen macht er sich flugs die Position von Abbas & Co. zu eigen: »Israels eigene Sicherheit erfordert die Schaffung eines palästinensischen Staates im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem.« Von einer für Israelis und Palästinenser akzeptablen Verhandlungslösung spricht er nicht.

Über Strategien zur praktischen Umsetzung des Borrell-Friedensplans erfährt der Leser herzlich wenig. Banal heißt es: »Wie und wann wir dies erreichen, wird von uns allen abhängen.« Alle seine arabischen Gesprächspartner seien sich aber einig, so Borrell, dass die arabisch-israelische Zusammenarbeit »von der Lösung der Palästina-Frage« abhänge. Daran führe schließlich kein Weg vorbei. Wie das, abgesehen von der Schaffung eines Palästinenserstaates, passieren soll, verrät Borrell nicht.

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Es gehe um eine »Lösung, die auf Gerechtigkeit und gleichen Rechten für beide Völker beruht«, die Sicherheit nicht nur des Nahen Ostens, sondern auch Europas müsse gewährleistet werden. Deshalb, schreibt Borrell, habe er gemeinsam mit einigen arabischen Ländern schon im September eine Friedensinitiative im Rahmen der Vereinten Nationen gestartet, so der EU-Chefdiplomat. »Wir sind entschlossen, weiter auf dieses Ziel hinzuarbeiten.«

Neue Freunde dürfte Borrell sich mit seinen medialen Ratschlägen in Israel nicht gemacht haben, sie dürften dort nicht als Rat, sondern eher als Schläge wahrgenommen werden. Aber vielleicht waren ermunternde Worte an die Adresse Israels auch gar nicht seine Absicht. Denn Josep Borrell und die Regierung in Jerusalem waren sich noch nie grün. Das gilt nicht nur für Benjamin Netanjahu, sondern auch für die von Naftali Bennett und Yair Lapid geführte Vorgängerregierung.

Nein, Josep Borrell geht es wohl auch ein bisschen um seine Popularität zu Hause. In Spanien und in vielen EU-Ländern ist der Großteil der öffentlichen Meinung schließlich auch nicht auf der Seite Israels.

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