Wir befinden uns mitten in einer erinnerungspolitischen Debatte. Das betrifft auch das öffentliche Gedenken an die Schoa am 27. Januar. Dieses ist wichtig, denn es lässt das Land einen Moment innehalten.
Aber dabei darf es nicht bleiben. Der 7. Oktober hat auch in der Frage der Erinnerung und des Gedenkens an die Schoa eine Entwicklung katalysiert. Die Einschläge kommen schneller und sie werden stärker.
Was bedeutet es 79 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wenn junge Linke angesichts der Solidarisierung der deutschen Politik mit Israel »Free Palestine from German Guilt« skandieren? Wenn an der Universität der Künste in Berlin Lynchmorde an Juden verherrlicht werden?
Ein bestimmtes Milieu will von der deutschen Verantwortung für Israel nach der Schoa nichts mehr wissen.
Ein bestimmtes Milieu will von der deutschen Verantwortung für Israel nach der Schoa nichts mehr wissen. Die Singularität des industriellen Massenmords an den europäischen Juden ist in diesem Umfeld schon lange keine Mehrheitsmeinung mehr. Der entlarvende Auftritt der drei Präsidentinnen der renommiertesten Universitäten in den USA vor dem Kongress bildet dafür den Rahmen.
Die Professorinnen waren nicht in der Lage, die Forderung eines Genozids an Juden auf ihrem Campus ohne Wenn und Aber als unvereinbar mit den Werten ihrer Einrichtungen zu bezeichnen. Besorgniserregend ist, dass mehr als die Hälfte der jungen Amerikaner ihrer Meinung sind und ebenso viele den barbarischen Terror der Hamas gegen Israel rechtfertigen.
Wie wir erinnern bestimmt auch unser Handeln im Hier und Jetzt.
Da wirken unsere Diskussionen fast noch milde. Doch zeigt der Blick über den Atlantik, welchen Weg die Auseinandersetzung nehmen kann. Während in linken Milieus die Singularität der Schoa bestritten wird, haben wir uns an die Relativierungen von rechtsextremer Seite fast schon als eine traurige Gewissheit gewöhnt. Dass mit der AfD die Partei, die dieses Denken bis weit in die Mitte der Gesellschaft bringen will, in einzelnen Bundesländern die Wahlumfragen anführt, erhöht aber auch von dieser Seite die Intensität.
Dass es ausgelöst durch das Treffen von AfD-Funktionären mit der Identitären Bewegung jetzt zu breiten Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus gekommen ist, war ein wichtiges Zeichen. Dass dort vereinzelt Juden bedroht wurden und Israelhass aufgetaucht ist, ist jedoch erschütternd. Wenn sich die äußerste Linke und die äußerste Rechte einander im Antisemitismus die Hand reichen, ist das sehr beunruhigend. Die für die Bundesrepublik so konstitutive Erinnerungskultur droht in diesem Deutungskampf der Extreme aufgerieben zu werden.
Die Einschläge kommen schneller und sie werden stärker.
Es braucht daher ein Aufbegehren der Mitte unserer Gesellschaft sowie eine intellektuelle und praktische Auseinandersetzung, wie wir das Erinnern und Gedenken an die Schoa in Deutschland in eine neue Zeit bringen können; eine Zeit ohne Zeitzeugen, eine Zeit mit digitalen Möglichkeiten (und Grenzen).
Der Zentralrat hat mit seiner vielbeachteten Konferenz »Erinnern um (nicht) zu vergessen« eine erste Bestandsaufnahme vorgenommen. Die Grundsätze unserer Haltung haben wir einem Positionspapier zur Erinnerungspolitik und Gedenkstättenarbeit veröffentlicht.
Wir haben damit endgültig die Bühne der erinnerungspolitischen Debatte betreten und werden sie auch nicht mehr verlassen. Wie wir erinnern bestimmt auch unser Handeln im Hier und Jetzt. Jüdinnen und Juden sind in Deutschland seit dem 7. Oktober einem massiven Antisemitismus ausgesetzt, der von der Gesellschaft kaum wahrgenommen wird.
In unserer Gesellschaft ist eine Empathielosigkeit mit Betroffenen von Antisemitismus verbreitet, die meist daran liegt, dass gerade junge Menschen, Antisemitismus häufig nur in Geschichtsbüchern verorten, dabei ist er heute real. Erinnern ist nicht statisch, es darf nicht zum Wegschließen und Ausblenden von Erfahrungen führen.
Der Zentralrat hat deshalb die Kampagne »Stop repeating Stories« gestartet, die sich mit der Erzählung von Geschichten, die aus den 1930er Jahren stammen könnten, aber in unserer Zeit passiert sind, genau gegen diese Empathielosigkeit richtet.
Es geht dabei keinesfalls um einen historischen Vergleich. Es heißt nicht »Stop repeating HISTORY«, sondern »STORIES«. Die Geschichten erinnern an damals und wir brauchen Empathie mit den Betroffenen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Öffentliches Gedenken ist dabei ebenso wichtig. In Deutschland wird bereits seit 1996 der »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« begangen.
Die jüdische Perspektive gehört elementar zu unserer Erinnerungskultur.
Mit seinem diesjährigen Thema der Gedenkstunde zur »generationenübergreifenden Aufarbeitung des Holocaust« setzt der Bundestag ein wichtiges Zeichen. Die sogenannte Zweite Generation, die Nachfolgegeneration der Zeitzeugen, nimmt in der Zukunft unserer Erinnerungskultur eine entscheidende Rolle ein. Es braucht diese Stimmen, die all diese Geschichten noch aus erster Hand erfahren haben.
Dieser Tage haben wir Tu biSchevat gefeiert, das Neujahr der Bäume. Er erinnert an das Gebot G’ttes: Wenn ihr in das Land kommt, sollt ihr allerlei Bäume pflanzen! Er ist ein positiver Feiertag, denn er feiert das Leben, L’Chaim: eine unserer Grundüberzeugungen. Neues Leben kann nur blühen, wenn wir uns an das Vergangene erinnern. Das ist eine Perspektive, die Jüdinnen und Juden in unsere deutsche Erinnerungskultur einbringen.
Es gibt einen Unterschied dabei, Geschichte als etwas zu begreifen, das anderen in der Vergangenheit passiert ist und sich an etwas zu erinnern, das einem selbst widerfahren ist. Diese jüdische Perspektive gehört elementar zu unserer Erinnerungskultur.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.