»Querdenken«

Mehr als grenzwertig

Auf der »Querdenken«-Demonstration am vergangenen Samstag in Frankfurt/Oder Foto: imago images/Christian Thiel

Ein paar Hundert Menschen hatten sich auf der Oderpromenade versammelt, um ihm vor der Bühne von »Querdenken« zuzuhören. Viele waren aus Berlin hierhergekommen, an die Grenze, andere aus Sachsen, aus dem Oder-Havelland, aus dem Ruhrgebiet und von der anderen Seite der Stadtbrücke, aus Polen.

Michael Ballweg, der prominent gewordene Gründer ihrer Protestbewegung, ließ sie warten, sich in der Novemberkälte tanzend aufwärmen. Ohne Abstand, die meisten ohne Masken. So zeigt sich ihr Widerstand in der Zeit der Pandemie.

Bundestag In den vergangenen Monaten hatten einige Demonstrationen seiner Bewegung Medien und Politik beschäftigt: Mit dem versuchten »Sturm« auf das Reichstagsgebäude durch Hunderte Demonstranten am Rande einer »Querdenken«-Demonstration in Berlin, die jubelnd mit schwarz-weiß-roten Reichsfahnen die Stufen zum Bundestag erklommen.

Über den Durchbruch von Rechtsextremisten und die Krawalle von Hooligans, die Zehntausenden »Querdenkern« mit Gewalt den Weg durch eine Polizeikette auf den Leipziger Ring bahnten. Schließlich mit den Provokationen und Ausschreitungen in und um den Deutschen Bundestag während der Abstimmungen des reformierten Infektionsschutzgesetzes.

Corona-Leugner Das Bündnis aus scheinbar bürgerlichen Kritikern der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit widerständigen Corona-Leugnern und Rechtsextremisten hatte sich nach Monaten seiner Konstituierung nun in aller Öffentlichkeit gezeigt.

Von Stuttgart aus wird ein bundesweites Netzwerk lokaler »Querdenken«-Initiativen geknüpft.

Durch die wiederkehrenden Eskalationen waren Politik und Sicherheitsbehörden alarmiert. Kam der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, noch im Sommer zu dem Schluss, dass Rechtsextremisten das »Demonstrationsgeschehen oder die inhaltliche Debatte derzeit nicht prägen«, arbeitete der Verbund der Verfassungsschutzbehörden aus Bund und Ländern im Herbst längst an einer neuen Bewertung der Bewegung. Unter der maßgeblichen Initiative aus Baden-Württemberg.

Beratung Von Stuttgart aus hatte Michael Ballweg ein bundesweites Netzwerk lokaler »Querdenken«-Initiativen geknüpft. Straff organisiert, über Teamleiter, Regional- und thematische Arbeitsgruppen, Rechts- und Marketingberatung, begleitet mit einer professionellen Spendenakquise. Der IT-Unternehmer Ballweg hatte eine gut funktionierende Bewegungsmaschine entwickelt, der bislang keine Polizei, kein Gericht und keine Landesregierung etwas entgegenzusetzen wusste.

Aber jetzt, im Teil-Lockdown mit seinen strikten Auflagen, sah sich der Staat durch die Provokation der sich radikalisierenden Bewegung herausgefordert, in der viele mit Umsturzfantasien erfüllt waren. In dieser Situation war Michael Ballweg an die polnische Grenze gefahren, weil er auch von hier aus seine Bewegung zu einer europäischen Sache machen wollte. Sie sollte wachsen. Dafür brauchte es einen Imagewandel in der Öffentlichkeit, aber auch für den Verfassungsschutz. Dafür hatte »Querdenken« nun eine PR-Agentur engagiert.

Auf der Bühne mit Blick über die Oder nach Polen heizte »Nana«, der eigene Showmoderator der Bewegung, seit über einer Stunde die Menge an. »Nana Lifestyler« animierte sie, den Namen des Mannes in der weißen Jacke zu skandieren. »Michael?« – »Ballweg!«, »Michael?« – »Ballweg!«. Die Menge klatscht, Ballweg winkt von der Bühne und trägt von einem Zettel seine »Empfehlungen« vor, als Ergebnis der neuen PR-Beratung.

Im Teil-Lockdown mit seinen strikten Auflagen sah sich der Staat durch die Provokation der sich radikalisierenden Bewegung herausgefordert, in der viele mit Umsturzfantasien erfüllt waren.

»Jetzt haben wir ein Niveau erreicht, in dem es wesentlich und wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass die Präsentation der Demonstrationen so durchgeführt wird, dass Medien und Politiker keine Angriffspunkte finden«, sagt Ballweg und wird von einer Dolmetscherin ins Polnische übersetzt. »Denn es gibt in den Medien und in der Politik beliebte Triggerpunkte, die sie für Feindbilder gerne nutzen.«

Symbol Die beliebten Themen: Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und extremistische Strömungen. Die Suche nach Aufrufen zu Gewalt gegen Politiker. Die Dolmetscherin übersetzt »Nationalsozialismus« mit »Nationalismus«, und auch die polnischen Nationalisten in der Menge hören ihr zu. Einige tragen die weiß-roten Armbinden der polnischen Heimatarmee mit dem Symbol des Warschauer Aufstands gegen die deutsche Besatzung.

Ballweg spricht weiter: »Und Symbole mit leicht umzudefinierendem Charakter, Reichsflaggen, Judensterne, Logenzeichen, Kampfzeichen oder altdeutsche Buchstaben. Deshalb bitten wir euch alle, auf diese Symbole zu verzichten.«

Holocaust-Relativierung Ein paar Meter neben der Bühne steht Sven Liebich, Rechtsextremist aus Halle: Sein knallroter Mundschutz erinnert an eine Armbinde der Nationalsozialisten, statt des Hakenkreuzes im weißem Kreis prangt dort ein stilisiertes Coronavirus.

Er gehört zu denen, die bislang über gelbe Judensterne auf den Anti-Corona-Demonstrationen den Holocaust relativiert und die Täter-Opfer-Umkehr von Rechtsextremisten und Corona-Leugnern vorangetrieben haben, bis sich auch die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag dieses Narrativ zu eigen gemacht hat und dort nach dem erklärten Zusammenschluss mit »Querdenken« von der »Corona-Diktatur« spricht (Alexander Gauland) sowie das neue Infektionsschutzgesetz zum »Ermächtigungsgesetz« verkehrt.

Reichsbürger Zwei Wochen vor seiner Rede hatte Ballweg noch die Regionalleiter seines Netzwerks zu einem klandestinen »Strategietreffen« mit einem der einflussreichsten Reichsbürger in Deutschland nach Saalfeld in Thüringen geladen, das durch einen Informanten aufflog und von der Polizei aufgelöst wurde. Auch hierhin, unter die Stadtbrücke, waren ihm wieder zahlreiche Reichsbürger gefolgt, diesmal ohne Fahnen, dazu etliche Mitglieder des rechtsextremen Vereins »Zukunft Heimat« aus Cottbus, die sich hier als »Bürger für Bürgerrechte« ausgaben, NPD-Funktionäre und rechte Fußballhooligans.

Einige Zeit nach der Rede von Michael Ballweg ging die Sonne unter, vom Fluss stieg die Kälte auf, viele Demonstranten zündeten Kerzen an, und eine Rednerin lud die Menge zu einem gemeinsamen deutsch-polnischen »Schweigemarsch« am 27. Januar nach Auschwitz ein.

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