Herr Salzborn, antisemitische Straftaten sollen in Zukunft präziser erfasst werden. Was war bislang das Problem, was kann getan werden?
Bei der Erfassung antisemitischer Straftaten haben wir ein Problem: Sie ist ungenau, und das generiert wiederum unterschiedliche Problemlagen. Zum einen erlangt man kein realistisches Bild über judenfeindliche Straftaten. Zum anderen entsteht der Eindruck, dass es eine sehr einseitige Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden gibt. Gerade auch für langfristige Fragen der Prävention ist eine genauere Erfassung hilfreich.
Bislang wurden antisemitische Straftaten, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, in die Kategorie »PMK – rechts« sortiert. Ist das die Ablage für alles?
»PMK – rechts« ist eine Sammelkategorie für politisch motivierte Kriminalität, in die man alles einordnet. Wenn bei einer anti-israelischen Demonstration der Hitlergruß gezeigt wird, würde man dies in die »PMK – rechts« sortieren, aber den entsprechenden Kontext ausblenden. Es mangelt an sensibler Wahrnehmung von Antisemitismus. Dass er in erster Linie mit Rechtsextremismus verbunden wird, ist nicht falsch, aber es greift zu kurz. Insbesondere bei Formen des anti-israelischen Antisemitismus gibt es andere Motivlagen.
Welche Kategorisierung könnten Sie sich vorstellen?
Zivilgesellschaftliche Initiativen wie RIAS haben ein deutlich präziseres Erfassungssystem und differenzieren in Bezug auf die verursachenden Täterinnen und Täter, aber auch auf Basis der Weltanschauung. Wenn man zu stark auf die Täter fokussiert, gerät diese zu stark aus dem Blick. Hinzu kommt: Der Antisemitismus von heute ist nicht mehr der Antisemitismus der 60er-Jahre – gerade auch mit Blick auf den gegen Israel gerichteten milieuübergreifenden Judenhass.
Nach antisemitischen Vorfällen in Gelsenkirchen oder Solingen ist dies ein Thema der Innenministerkonferenz. Wie sehr stehen die Bundesländer unter Druck, endlich zu handeln?
Ich bedauere, dass immer erst dann, wenn es besonders aggressiven Antisemitismus gibt, ein Handeln generiert wird, anstatt dies als dauerhafte Herausforderung zu begreifen. Man muss sehen: Judenfeindliche Taten würde es ohne das Weltbild nicht geben.
Welche Schlüsse könnte man aus einer präziseren Erfassung ziehen?
Neben einer wirklichkeitsnäheren Erfassung stehen auch unterstützende Maßnahmen für die ermittelnden Behörden. In Berlin sind wir dabei, einen Leitfaden, den Generalstaatsanwaltschaft und Polizei gemeinsam erarbeiten, auf den Weg zu bringen. Den Ermittlungsbehörden soll damit Werkzeug an die Hand gegeben werden, Antisemitismus in seinen Facetten zu erkennen. Ein solcher Leitfaden, der den Polizeidienststellen dann vorliegt, könnte die Sensibilität, Judenhass zu erkennen, deutlich steigern.
Mit dem Antisemitismusbeauftragten von Berlin sprach Katrin Richter.