Die Linke

»Man darf keine Waffen an jemanden liefern, der das Völkerrecht verletzt«

Jan van Aken ist Parteivorsitzender und Spitzenkandidat der Linkspartei Foto: Gregor Matthias Zielke

Bereits zehn Minuten vor dem offiziellen Termin begrüßt Jan van Aken die Reporter in seinem Büro im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin. Rosa Luxemburg, die jüdische Ikone der Linken, schaut gleich viermal streng von der Wand hinter ihm auf den Parteivorsitzenden herunter. Der 63-jährige hat in Tel Aviv und bei einer jüdischen Familie in New York gelebt. Er möchte reden, eine ganze Stunde, auch mitten im Wahlkampf. Vielleicht ahnt er, dass er ein paar seiner Position gegenüber den jüdischen Lesern erklären muss. 

Herr van Aken, seit fast zwei Wochen gilt eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. Was waren Ihre Gedanken, als Sie die ersten Bilder der freigelassenen israelischen Geiseln gesehen haben?
Endlich! Und: die Armen. Das Schicksal der Geiseln begleitet mich seit dem 7. Oktober 2023. An diesem Tag war ich in Tel Aviv, weil ich dort zwei Jahre lang gelebt und für die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet habe. Die Bilder der Geiseln hat man dort überall gesehen, das geht schon unter die Haut. Die Unsicherheit in der Gefangenschaft stelle ich mir schrecklich vor: Was machen die Geiselnehmer mit mir? Trifft mich eine Bombe? Das müssen 15 Monate Psychoterror gewesen sein

Hat Ihr langer Aufenthalt in Israel Ihren Blick auf die Situation dort verändert?
Ja, sehr. Vorher habe ich immer politisch auf das Land geschaut und jetzt bin ich emotional sehr involviert. Ich habe dort sowohl mit Juden als auch mit Palästinensern zusammengearbeitet. Sie alle waren vom 7. Oktober direkt betroffen und teilen das Gefühl, dass ihre jahrzehntelange Friedensarbeit zunichtegemacht wurde.

Wir befinden uns gerade in der ersten von drei Phasen des Waffenstillstands. Was hoffen Sie, wie es jetzt weitergeht?
Ich hoffe, dass alle drei Phasen halten und der Krieg endet. Das Problem ist, dass der israelische Premierminister Netanjahu im Moment immer noch keine Idee entwickelt hat, wie es in Gaza weitergeht. Das war immer einer der Gründe, warum es so lange mit dem Waffenstillstand gedauert hat, und das könnte auch dazu führen, dass er irgendwann wieder vorbei ist.

Der Waffenstillstand könnte auch an der Hamas scheitern.
Auf jeden Fall, es gibt immer zwei Seiten. Mein Eindruck ist aber, dass die Hamas auch politisch geschwächt ist und aktuell ein geringes Interesse hat, das Abkommen vorzeitig zu brechen. Aber auch das ist fragil.

Fakt ist, dass die Hamas diesen Krieg begonnen hat. Ihre Partei war und ist trotzdem gegen Waffenlieferungen an das angegriffene Israel. Warum?
Dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung hat, ist überhaupt keine Frage. Das haben wir immer gesagt. Aber es gibt Angriffe in Gaza, die aus meiner Sicht nicht völkerrechtskonform sind. Es existieren Videos, auf denen israelische Soldaten mit deutschen Panzerfäusten auf zivile Häuser schießen. Ich finde nicht, dass man Waffen an jemanden liefern darf, der das Völkerrecht verletzt.

Wie soll man einen Gegner wie die Hamas bekämpfen?
Das ist eine entscheidende Frage. Aber eine rein militärische Strategie funktioniert offenbar nicht. Das Problem ist, dass man mit jedem Angriff auf ein ziviles Haus die Terrororganisation stärkt. Wenn dabei Jugendliche ihre ganze Familie verlieren, sagen die sich: Irgendwann räche ich mich. Eine Terrorgruppe rein militärisch zu bekämpfen, ist eigentlich immer zum Scheitern verurteilt. Terrorbekämpfung ist immer auch eine politische und soziale Aufgabe. Man muss das Problem an der Wurzel angehen.

Sind Sie grundsätzlich gegen Waffenlieferungen an Israel?
Ich bin grundsätzlich gegen Waffenexporte, egal ob sie an die USA, Frankreich, Nigeria oder Israel gehen. Gleichzeitig bin ich Antifaschist und sage ganz klar, dass Deutschland wegen des Holocaust eine besondere Verantwortung gegenüber Israel hat. Das steht für mich außer Frage.

»Ich bin grundsätzlich gegen Waffenexporte, egal ob sie an die USA, Frankreich, Nigeria oder Israel gehen«

Worin besteht dann die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel?
Deutschland könnte auf Diplomatie setzen, um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Zu vielen Staaten in der Region haben wir gute Beziehungen und verdienen mit dem Handel viel Geld. Auf diejenigen Länder, die den Staat Israel immer noch nicht anerkennen, könnte Deutschland viel mehr Druck ausüben.

Auf dem Parteitag der Linken Mitte Januar haben Sie gesagt, dass Sie nach Gaza fahren wollen, sobald das möglich ist. Welche Ansprechpartner gäbe es dort für Sie?
Ich will zu den Kibbuzim, die überfallen worden sind, und nach Gaza reisen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat dort mit Personen und Organisationen zusammengearbeitet, die nicht Hamas-nah sind. Mit ihnen will ich zum Beispiel besprechen, was die Bundesregierung für den Wiederaufbau Gazas tun und wie man die Hamas schwächen könnte.

Nicht alle im linken Spektrum lehnen die Hamas ab, manche feiern sie gar. Wie groß ist das Problem des linken Antisemitismus?
Ich finde, dass der linke Antisemitismus überbetont wird. Es gibt ihn, das ist nicht in Abrede zu stellen. Aber der Holocaust war weder einem eingewanderten noch einem linken Antisemitismus geschuldet. Das zentrale Problem ist nach wie vor der rechte, faschistische Antisemitismus.

»Ich finde, dass der linke Antisemitismus überbetont wird.«

Auch das ehemalige Linken-Mitglied Ramsis Kilani äußerte sich pro-Hamas und wurde dafür gerade aus Ihrer Partei ausgeschlossen. Finden Sie das richtig?
Das ist ein laufendes Verfahren, und wir haben eine innerparteiliche Schiedsgerichtsbarkeit. Da kann ich mich nicht einmischen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich Social-Media-Beiträge von Kilani gesehen habe, die ich total falsch finde und die mit einer linken Position nichts zu tun haben.

Innerhalb der Linkspartei solidarisieren sich einige Mitglieder mit Kilani. Wie breit ist der Konsens in Ihrer Partei, wenn es um die klare Ablehnung der Hamas geht?
Die Linke hat im Oktober auf ihrem Bundesparteitag einen Beschluss zum Nahostkonflikt gefasst, in dem unter anderem der Terror der Hamas klar verurteilt und das Existenzrecht Israels bekräftigt wird. Ich bin sicher, dass 99 Prozent unserer Mitglieder das mittragen.

Im Wahlkampf versuchen Sie, vor allem mit sozialen Themen zu punkten. Mehr als 90 Prozent der älteren jüdischen Zuwanderer sind von Altersarmut betroffen. Was wollen Sie dagegen tun?
Die Regierung hat letztes Jahr eine Einmalzahlung von maximal 5000 Euro für jüdische Rentner vorgeschlagen. Wir finden das zu wenig. Es sollten 10.000 Euro sein. Wir fordern im Übrigen für alle eine armutsfeste Mindestrente. Die Armutsgrenze liegt gerade bei 1400 Euro. So viel sollten alle Rentner im Monat haben. Das kostet den Staat viel Geld, aber das lässt sich bezahlen.

»Die Armutsgrenze liegt gerade bei 1400 Euro. So viel sollten alle Rentner im Monat haben.«

Selbst wenn Sie jüdische Rentner damit überzeugen sollten – viele können Sie trotzdem nicht wählen. Ein Großteil der älteren jüdischen Zugewanderten aus der Sowjetunion besitzt noch immer keinen deutschen Pass, in der Regel, weil sie sich nicht aus eigenen Mitteln finanzieren können.
Die Staatsangehörigkeit davon abhängig zu machen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, ist falsch. Diese Leute haben hier sicher viel geleistet. Sie haben hier Kinder und Enkelkinder großgezogen, das ist für uns auch Arbeit. Sie nehmen am gesellschaftlichen Leben teil. Das sollte als Bedingung für den Pass reichen.

In Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie Jom Kippur und das muslimische Zuckerfest zu gesetzlichen Feiertagen machen wollen. Entdecken die Sozialisten jetzt ihre Liebe zur Religion?
Ich finde das wichtig, weil es für ganz viele Menschen in unserem Land eine zentrale Bedeutung hat. Es gibt noch einen zweiten Grund. Ich habe mal bei einer jüdischen Familie in New York gewohnt und dort fiel mir auf, dass ich gar nichts über deren Feiertage wusste. In dem Moment ist mir klar geworden: Es gab auch in Deutschland einmal ein viel aktiveres jüdisches Leben, aber die Deutschen haben es fast komplett vernichtet. Heute fällt jüdisches Leben vor allem durch Polizeischutz auf. Das ist schlimm. Jüdisches Leben wieder sichtbarer zu machen, indem man Jom Kippur feiert, finde ich eine tolle Idee.

Mit dem Spitzenkandidaten von »Die Linke« sprachen Mascha Malburg und Joshua Schultheis. Für unsere Interview-Reihe zur Bundestagswahl wurden alle relevanten demokratischen Parteien angefragt.

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