Wer sich mit dem Fall Aiwanger auseinandersetzt, kommt nicht darum herum, sich Gedanken über Geschichte und Gegenwart zu machen. Hubert Aiwanger täte gut daran, sich an dieser Arbeit zu beteiligen – nicht aus politisch-taktischen Erwägungen, wie er sein Amt als bayerischer Wirtschaftsminister retten und mit seiner Partei ein ordentliches Ergebnis bei der bevorstehenden Landtagswahl erzielen kann, sondern um unser aller willen. Ein Mensch ist in erster Linie sich selbst verantwortlich. Ein Bürger, speziell ein Politiker, der Gemeinschaft.
Das Unerbittliche an der Vergangenheit ist, dass sie vorbei und damit unkorrigierbar ist. Doch uns ist auch die Gegenwart geschenkt. Heute sind wir frei, die Fehler von gestern einzusehen und es in Zukunft besser zu machen. Zudem gibt es in Deutschland das heikle Kapitel der jüdischen Geschichte dieses Landes. Vermintes Gelände – nicht erst seit der Nazi-Zeit. Da will niemand Fehler machen, das kann Ansehen und Karriere ruinieren – womit wir wieder bei Hubert Aiwanger wären.
Als junger Mann besuchte er das Burkart-Gymnasium in Mallersorf-Pfaffenberg. Während dieser Zeit, etwa als 16, 17-jähriger, haben er oder sein Bruder Helmut oder beide gemeinsam ein Pamphlet mit schlimmem, antisemitischem Inhalt verfasst und zirkulieren lassen. Hubert Aiwanger wurde dafür bestraft. Hubert Aiwanger habe, so versichern Mitschüler heute, Exemplare des Flugblatts in seiner Tasche gehabt. Andere berichten vom Besitz von Hitlers Machwerk »Mein Kampf« ... dies liegt etwa 35 Jahre zurück. Seither ist Hubert Aiwanger nie wieder als Antisemit aufgefallen. Auch nicht Zeit seiner politischen Karriere bei den freien Wählern.
Kein Demokrat verlangt, dass Aiwanger wegen seiner Jahrzehnte zurückliegenden Verfehlungen heute seine Existenz aufgeben solle. Es geht hier nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Vor Monaten erfuhr die »Süddeutsche Zeitung« von dem zurückliegenden Geschehen in Hubert Aiwangers Jugendzeit und bat ihn wiederholt, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen. Der Politiker verweigerte dies – das ist sein legitimes Recht. Daraufhin berichtete die Zeitung über das von ihr recherchierte Geschehen. Die Redaktion gibt an, dies sei unabhängig vom gegenwärtigen Zeitpunkt, knapp vor der Wahl, geschehen.
Nach der Veröffentlichung des Artikels herrschte bei vielen Bestürzung. Aiwanger aber versicherte, er habe das Flugblatt nicht geschrieben, kenne aber den Verfasser, den er nicht denunzieren wolle. Zugleich aber lamentierte er über eine Schmutzkampagne gegen ihn und seine Partei. Er sprach à la Donald Trump und anderer von einer Hexenjagd. Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.
Nunmehr erklärte sein Bruder Helmut, er habe das Pamphlet geschrieben. Aiwanger distanzierte sich vom bösen Text und ging seinerseits zum Angriff über. Er sah sich als Opfer einer Treibjagd.
Der sogenannte Befreiungsschlag Aiwangers genügte außer seinen Spezis nicht. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der bis dahin mit Aiwanger und seiner Partei in einer Koalition zusammengearbeitet hatte und es weiterhin tun möchte, war die Scharade seines Vizes samt Bruder zu undurchsichtig. So gab er seinem Stellvertreter einen 25-Fragen-Katalog zur Beantwortung auf. Aiwanger ließ sich zunächst Zeit. Er wollte nicht als gemaßregelter Schüler dastehen. Zugleich entschuldigte er sich bei den Opfern des Nazi-Regimes und ihren Nachfahren – und erheischte wie gewohnt Mitleid als Gejagter. Endlich erteilte er dem Ministerpräsidenten Antwort.
Genug mit den Ausflüchten! Es geht, das sollte selbst Hubert Aiwanger allmählich begreifen, um mehr als um seine politische Karriere. Unsere Demokratie muss nicht zurückgeholt werden, wie der Politiker tönte. Man darf sie aber auch nicht durch Ausflüchte beschädigen. Auf dem Spiel stehen Ehrlichkeit und Anstand in der Politik. Und Glaubwürdigkeit. Wenn sie verloren gehen, ist auch das Possenspiel von Aiwanger und Co vorbei. Dann triumphieren wieder die Rechtsextremen in Deutschland und woanders.
Herr Aiwanger, machen Sie sich endlich ehrlich. Es geht hier nicht um Ihre Polittaktik, sondern die Demokratie in Bayern und in Deutschland. Sie fußt auf Aufrichtigkeit und Menschenwürde.