Ist Hans-Georg Maaßen, der CDU-Spitzenkandidat in Südthüringen, ein Rassist und Antisemit? Oder ist der Ex-Verfassungsschutzpräsident im Gegenteil das jüngste Opfer der »Cancel-Culture«, die alle mundtot machen will, die gegen den selbst definierten moralischen Codex verstoßen?
Eine Woche lang hielt sich die aufgeregte Debatte darüber im Netz, im Fernsehen und im Print. Mittlerweile dominiert die Meinungsschlacht um den Raketenterror der islamistischen Hamas und die israelische Reaktion darauf.
EKLAT Ungleich dramatischer und doch lohnt der Blick zurück, denn im Eklat um Luisa Neubauers Angriff auf Hans-Georg Maaßen beziehungsweise die Unterstützung des Rechtsaußen durch den CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet steckt ein Konflikt, der über den unmittelbaren Anlass weit hinausgeht. Wie fast immer, wenn es um Antisemitismus geht, ist die Sachlage einerseits kompliziert, andererseits aber ganz einfach, weil es um die immer gleichen Grundregeln geht.
Luisa Neubauer scheiterte mit ihrem Angriff krachend - aber nur auf den ersten Blick.
Erstens ist Antisemitismus ein Vorwurf, der nicht ohne Belege erhoben werden darf. Zumal in Deutschland nicht, weil es hierzulande immer auch nach Gas riecht. Diese Belege blieb Luisa Neubauer bei Anne Will schuldig. So gesehen ist sie krachend gescheitert. Aber nur auf den ersten Blick.
Ohne sie und ihren heftigen Auftritt hätten viele Maaßen Maaßen sein gelassen und hätten nicht bemerkt, was sich im Südosten unseres Landes derzeit zusammenbrau(n)t. Der durch Neubauer ausgelöste Blick ins Archiv und auf Äußerungen Maaßens ist erschreckend und erhellend.
BEWEISE Er zeigt aber auch, dass in einer Talk-Show taugliche, also schlichte und schnell eingängige Beweise für den Vorwurf, dass Maaßen Antisemitismus verbreite, kaum beizubringen gewesen wären. Zwar hat er durchaus auch Webseiten geteilt, die mit Holocaust-Leugnern in Verbindung stehen und er erhält Applaus von rechts bis hin zu überzeugten Nazis, er selbst aber hat die Schoa selbstverständlich weder gerechtfertigt noch verharmlost.
Das aber ist zweitens noch kein Freispruch von der Anklage des Antisemitismus, denn der beginnt nicht mit der Schoa, sondern endet dort.
Heute werden lieber Chiffren verwandt, die von denen, die sie entschlüsseln können, auch sofort verstanden werden.
Drittens sind bekennende Schoa-Antisemiten ohnehin eher selten. Selbst ein richtiger Antisemit mit Blut und Boden mag nicht Antisemit genannt werden, um so weniger die cleveren Antisemiten mit Diplom und Doktorgrad. Eindeutigkeit nämlich mindert die Anschlussfähigkeit und so werden lieber Chiffren verwandt, die von denen, die sie entschlüsseln können, auch sofort verstanden werden, die aber maximal als Indizien und schwerlich als Beweise durchgehen.
»Globalismus« ist eine dieser Chiffren. Ebenso der »Great Reset«. Beide Begriffe, die Hans-Georg Maaßen bewusst und gern verwendet, was sein CDU-Parteichef Armin Laschet wissen müsste. Sollte er es wirklich nicht wissen, was fahrlässig wäre, so findet er mühelos Nachhilfe zum Beispiel bei der parteieigenen Konrad-Adenauer-Stiftung.
ÜBERSETZUNGEN Sie erklärt leicht verständlich, was diese beiden Begriffe ebenso wie »Finanzeliten«, »Drahtzieher«, »Ostküste«, »Neue Weltordnung« und andere Begriffe zu antisemitischen Chiffren macht. Allesamt Beispiele rechtsextremer »Dogwhistle«. Menschen sind für den Ton der Hundepfeifen nicht empfänglich, ein Hund aber hört sie. Wenn Maaßen also von einer »Neuordnung der Weltpolitik« redet, passiert genau das. Wer hören kann, versteht die Botschaft »Neue Weltordnung«. Außenstehende aber verstehen – nichts.
»Das Ding ist, wenn ihr nicht alle aktuellen antisemitischen Codes und Dogwhistles der rechten Szene kennt, ist das ok. Die sind ja dafür gemacht, damit ihr sie nicht kennt«, twitterte Marina Weisband. »Aber HG Maaßen kennt sie. Ich habe gehört, er hat mal beim Verfassungsschutz gearbeitet«.
Egal mit welcher Motivation jemand rote Linien verschiebt, sie werden verschoben – und allein das zählt.
Keine Frage, Maaßen weiß genau, was er sagt und er sagt es so und nicht anders, weil er so denkt und weil er auf Stimmenfang rechtsaußen geht. Das ist eine zumindest fahrlässig gefährliche Zündelei mit rassistischen und antisemitischen Ressentiments.
Egal mit welcher Motivation jemand rote Linien verschiebt, sie werden verschoben – und allein das zählt. Ob unbewusst oder bewusst: Es senkt die Schwelle für jene, die ihre rassistischen Fantasien ebenfalls ausdrücken wollen und gefährdet Menschen, die deren Weltbild nicht entsprechen. Die dramatisch wachsende Zahl rechter Gewalttaten, die Gefährdung von Kommunalpolitikern, die Angst von Andersdenkenden im Strom der Populisten, sie ist eine ernstzunehmende Bedrohung unserer Demokratie.
TABUBRUCH Wer antisemitische Chiffren oder rassistische Begriffe nutzt, trägt zum folgenschweren Tabubruch bei. Wer sie bewusst einsetzt, muss sich dafür politisch verantworten. Erst recht als Politiker. Das gilt für Hans-Georg Maaßen ebenso wie für Boris Palmer, den grünen Oberbürgermeister von Tübingen. Auch er weiß, was Worte anrichten. Diese Klaviatur beherrscht er meisterhaft. Und wenn es einmal wieder krachend danebengeht, hisst er die weiße Flagge »Ironie«. Wer ihm den Koscher-Stempel für seinen Rassismus verweigert, ist wahlweise damit humorlos oder vertritt die rigorose »Cancel Culture«, die jede Abweichung von der politisch korrekten Linie verdammt.
Eine Reaktion wie bei den Grünen der Fall Palmer ist im Fall Maaßen durch den zuständigen Parteivorsitzenden leider ausgeblieben.
Nun ist der Fall Palmer vergleichsweise leicht zu lösen. Entweder ist sein Kopf so angefüllt mit sexuellen und rassistischen Fantasien, dass der Post einfach rauswollte oder er hat bewusst gezündelt. Beides ist untauglich für einen demokratischen Politiker, was die grünen Parteivorsitzenden auf Landes- und Bundesebene unmissverständlich deutlich gemacht haben. Eine solche Reaktion ist im Fall Maaßen durch den zuständigen Parteivorsitzenden leider ausgeblieben.
DEBATTEN Maaßen und Palmer – beide Fälle taugen nicht als Beispiele für den zu Recht kritisierten verengten Diskurskorridor, der abweichende Meinungen ausgrenzt und so eine gesellschaftlich wichtige Debatte erschwert. Den gibt es zweifellos und es ist wichtig für eine lebhafte Streitkultur zu streiten.
Es fragt sich aber, woher das dringende Bedürfnis kommt, eindeutig rassistische oder antisemitisch konnotierte Begriffe zu verwenden? »Man wird doch nochmal sagen dürfen«… wir wissen nur zu gut, dass danach in aller Regel Unsägliches kommt. Und gefordert wird ja nicht, wie etwa »Israelkritiker« gern behaupten, das Recht, etwas sagen zu dürfen.
Widerspruch wird gern als Beispiel für »Cancel Culture« abgekanzelt, mit dem man sich folglich auch nicht mehr auseinandersetzen muss.
Die jüngste Eskalation zwischen der Hamas und Israel liefert dafür gerade wieder reihenweise Beispiele. Das Recht der freien Meinungsäußerung gibt es. Seine Grenzen definiert das Gesetz. Gefordert wird das Recht, auch den größten rassistischen und antisemitischen Unfug ohne Widerspruch zu ernten, sagen zu dürfen. Und dieses Recht gibt es selbstverständlich nicht. Widerspruch aber wird dann gern als Beispiel für »Cancel Culture« abgekanzelt, mit dem man sich folglich auch nicht mehr auseinandersetzen muss.
Und damit schließt sich der Kreis zu Maaßen. Den Vorwurf der Gefährdung anderer wird er weit von sich weisen. Und doch trägt er dazu bei, denn das erledigen andere nur zu gern. Wie die 46-jährige Mitbewohnerin eines Hauses in Leipzig, die ihrer 26-jährigen Nachbarin mit sofortiger Deportation drohte, als sie mitbekam, dass die junge Frau Hebräisch sprach.
Sie wähnt sich im Recht und wäre vermutlich durchaus eine denkbare Stimme für die CDU beziehungsweise ihren Kandidaten Maaßen, sofern dieser nicht in Südthüringen, sondern in ihrem Wahlkreis kandidieren würde.
Die Autorin hat mehr als drei Jahrzehnte als leitende Redakteurin beim Hessischen Rundfunk gearbeitet, ist Filmemacherin und Publizistin. Zuletzt erschien von ihr das Buch »Israel ist an allem schuld. Warum der Judenstaat so gehasst wird« (Eichborn 2015).