Europa hat seine Leichtigkeit verloren. Das sieht man an den Diskussionen über den Eurovision Song Contest. Der Wettbewerb, früher Ort europäischer Selbstironie und verspielter Identitäten, ist zum Schauplatz gekränkter Patriotismen und staatstragender Konkurrenzen geworden.
Unentspannt sind die Diskussionen über den Siegertitel »1944« der ukrainischen Sängerin Jamala. Ähnlich auch die verbissenen Auseinandersetzungen, ob Platz eins der deutschen Jury für Israel Philosemitismus war, oder ob der letzte Platz für die deutsche Teilnehmerin ein Beweis für Liebesentzug Europas gegenüber Merkel bedeutet.
qualität Würden wir uns entspannen, könnten wir eine ganz andere Wirklichkeit entdecken: Wir würden erkennen, dass der ESC in diesem Jahr mit hervorragender Qualität glänzte. Und würden zugeben, dass der beeindruckende russische Beitrag vor Hightech-Überladung dermaßen geprotzt hat, dass der eigentlich gute Sänger viel mehr damit beschäftigt war, die Trittbretter zu finden, als eine musikalische Geschichte zu erzählen.
Man müsste anerkennen, dass die Gewinnerin durch Authentizität mit einer tragischen Erzählung über das Leid der eigenen Familie überzeugte. Wer ihren Beitrag für ein politisches Lied hält, für den müsste auch Schindlers Liste ein Politikum sein. Nein, nicht die Sängerin politisiert den Wettbewerb, ihr Kunstwerk wird von der europäischen Wirklichkeit politisiert.
anspruch Russland ist an dieser Aufladung keineswegs unschuldig: Das maßlose Auffahren von Technik war ein machtvoller Anspruch auf den ersten Platz. Russland hat auch 2016 nicht begriffen, was es zwei Jahre zuvor, als Conchita Wurst für Österreich gewann, schon nicht verstand, als man Abendland und Autorität verloren glaubte, wo doch in Wirklichkeit nur eine Frau mit Bart ein schönes Lied über Vielfalt sang.
Somit lautet das Fazit von Stockholm: Es war eine qualitätsvolle Unterhaltung. Und mit etwas mehr Selbstironie bei allen Beteiligten wäre alles entspannter gewesen.
Der Autor ist Anwalt und Publizist in Berlin.