Auf dem Pariser Platz, nur Meter vom großen Weihnachtsbaum entfernt, stand wieder die bekannte, überdimensionale Chanukkia in der einbrechenden Dunkelheit. Zum 18. Mal lud Rabbiner Yehuda Teichtal zu dieser Zeremonie ein - aber diesmal war alles anders. In den Beginn des in der Regel fröhlichen Lichterfestes mischte sich Trauer. Tränen flossen.
Noch prominenter als in der Vergangenheit sah auch die Gästeliste aus. Olaf Scholz (SPD) war es diesmal, der mit Teichtal das erste Chanukka-Licht entzündete. Vorher sagte der Bundeskanzler: »Ich wünsche mir, dass das Licht dieses Leuchters weit über diesen Platz hinaus strahlt, noch länger als die acht Tage des Chanukka-Festes.« Scholz wusste, warum er diesmal zum Brandenburger Tor kam: Solidarität ist gerade jetzt wichtig. »Chanukka steht für Hoffnung und Zuversicht. Beides brauchen wir in diesen Tagen ganz besonders.«
Der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober habe sich gegen den einzigen jüdischen Staat auf der Welt gerichtet, aber auch »gegen die Menschlichkeit selbst«, erklärte der Kanzler. »Deshalb versucht die Hamas, ihre Opfer zu entwürdigen, sie zu dehumanisieren.«
Diplomatische Kanäle
»Weit über 100 Personen sind immer noch als Geiseln in der Gewalt der Terroristen«, sagte Scholz. Er versprach, die Bundesregierung arbeite weiterhin »mit ganzer Kraft und auf allen diplomatischen Kanälen daran«, dass eine Freilassung möglich wird.
Der Bundeskanzler versicherte den jüdischen Gemeinden, sie würden auch weiterhin geschützt. »Dass dies nach dem Anschlag der Hamas und den Reaktionen darauf nötig ist, ist traurig und erschreckend zugleich.«
»Wir nehmen es nicht hin, wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger Angst haben müssen, offen ihre Religion, ihren Alltag, ihre Kultur zu leben, wenn sie ihr grundlegendes Recht wahrnehmen, sichtbar zu sein«, sagte Scholz vor den etwa 300 Gästen und Zuhörern.
Vorbild Teichtal
Zu ihnen gehörten auch die Botschafter Ron Prosor und Amy Gutmann, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig (SPD), Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und viele Vertreter der jüdischen Gemeinschaft, darunter Daniel Botmann, der Geschäftsführer des Zentralrates der Juden.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), der ebenfalls gekommen war, betrat vor Scholz die Bühne an der zehn Meter hohen Chanukkia vor dem Brandenburger Tor. Er dankte Rabbiner Teichtal für dessen Engagement für Zusammenhalt. »Du bist ein Vorbild«, betonte er.
»Zwei Monate nach den brutalen Angriffen der Terroristen der Hamas auf Israel setzen wir ein klares Zeichen für Hoffnung und ein klares Zeichen für jüdisches Leben auch in unserer Stadt«, so Wegner.
Freiheit und Demokratie
Die Botschaft, die heute vom Brandenburger Tor ausgehe, sei klar: »Erstens: Wir stehen an der Seite Israels. Zweitens: Wir stehen an der Seite der Menschen, die bei dem Terroranschlag Familienmitglieder verloren haben - und wir stehen an der Seite der Menschen, die immer noch als Geiseln festgehalten werden. Wir rufen vom Brandenburger Tor: Bringen Sie die Menschen endlich nach Hause. Bring them home!«
»Heute steht dieses Brandenburger Tor für Freiheit und Demokratie. Dafür steht auch Berlin: Für Freiheit, Vielfalt und Demokratie.« Jüdisches Leben in Berlin »ist uns wichtig«, sagte der Regierende Bürgermeister. »Wir sind stolz darauf, dass wir jüdisches Leben nach den Gräueltaten der Nazis wieder in unserer Stadt haben.« Dies sei auch eine Verpflichtung. Judenhass und Terrorverherrlichung dürften keinen Platz auf den Straßen Berlins haben.
Rabbiner Teichtal brachte seine Message wie gewohnt auf eine sehr energetische Art und Weise an seine Gäste, auf Deutsch, Ivrit und Englisch. Auf den Tag genau zwei Monate nach den Massakern der Hamas sagte er, diese hätten sich nicht nur gegen Israel und dessen Volk gerichtet, sondern auch gegen die gesamte demokratische Welt.
Licht und Freude
»Was ist unsere Antwort? Licht über Dunkelheit«, sagte Teichtal am ersten Abend des Lichterfestes. »Demokratie über Tyrannei! Die Antwort ist, dass wir uns nicht zurückziehen!« Das Gegenteil sei der Fall: »Mehr Licht! Mehr Freude! Mehr jüdisches Bewusstsein! Das ist unsere Antwort, liebe Freunde!«
Für Intoleranz dürfe es keine Toleranz geben. Deutschland, so der Rabbiner, sei heute ein »Leuchtturm der Demokratie«. Er dankte unter anderem Scholz und Wegner - und überreichte ihnen glitzernde Chanukkiot.
Während die Kombo Boris Rosenthal & Friends israelische Lieder spielte, begaben sich Teichtal und Scholz auf eine Hebebühne und fuhren zu den Lichtern der großen Chanukkia hinauf. Mit einer Fackel entzündete der Bundeskanzler das erste Licht.
Itays Realität
Eine reguläre Chanukka-Feier am Brandenburger Tor hätte in diesem Moment geendet. Nicht diesmal. Na’ama und Ofir Weinberg standen nun vor den Anwesenden - die Cousinen von Itai Svirsky, der weiterhin von den palästinensischen Terroristen der Hamas festgehalten wird.
»Stellen Sie sich vor, Sie würden 62 Tage lang nicht duschen oder sich die Zähne putzen. Stellen Sie sich vor, sie würden 62 Tage lang ohne Küsse oder Umarmungen auskommen müssen«, sagte Na’ama Weinberg auf Englisch. »Stellen Sie sich vor, sie würden 62 Tage lang auf einem dreckigen Fußboden schlafen müssen, 62 Tage ohne Essen - abgesehen von einem Stück Brot pro Tag. Stellen Sie sich vor, 62 Tage lang zu wissen, dass Ihre Mutter ermordet wurde - aber nicht zu wissen, ob es in ihrer Familie Überlebende gibt.«
»Dies ist Itays Realität der letzten 62 Tage. Er wurde am 7. Oktober im Kibbuz Be’eri als Geisel genommen und verschleppt. Seine Eltern wurden an diesem schrecklichen Samstag ermordet.« Als Na’ama Weinberg beschrieb, wie Terroristen ihre Tante und ihren Onkel erschossen, kamen ihr die Tränen. Tapfer sprach sie weiter. Sie und ihre Schwester riefen alle Gäste des Events auf, sich für Itay Svirskis Freilassung einzusetzen. »Itay lebt. Und wir können ihn immer noch retten.«
Gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Die 18. Chanukka-Feier am Brandenburger Tor war traurig. Aber Hoffnung war da - für Itay, für die 137 anderen Geiseln. Für das Zusammenleben in der Bundesrepublik, in und um Israel sowie in der ganzen Welt. Licht verdrängt die Dunkelheit. Es muss nur zuerst überall durchdringen.
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) gehörte ebenfalls zu jenen, die Solidarität zeigen wollten. Er sagte der Jüdischen Allgemeinen, er wünschte, es wäre ein freudiger Anlass, der die Leute zusammenbringe. »Chanukka ist eigentlich ein Fest, an dem man sich freut.«
»Es ist wichtig, dass man zeigt, dass wir zusammenstehen und uns nicht auseinander dividieren lassen - und zwar unabhängig davon, welcher Herkunft wir sind«, so Özdemir. »Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht eine primär jüdische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.«