Plötzlich ist sie jüdisch, christlich-jüdisch. Seit die »Leitkultur« vor einem Jahrzehnt in die politische Welt der Deutschen trat, hat sie etliche Wandlungen durchgemacht. Europäisch war sie und deutsch, nicht ohne den klärenden Zusatz »freiheitlich« und/oder »demokratisch«. Das Abendland wurde bemüht, ebenso die jüngere deutsche Geschichte. In Angela Merkels »Herbst der Entscheidungen« 2010 wird das Judentum nun in die Phalanx schmückender Beiworte eingereiht. Nur: warum?
Multi-Kulti »Deutschland ist Heimat und Teil unserer Identität«, heißt es im Antrag des Vorstands an den Parteitag im November. »Unsere kulturellen Werte, geprägt durch eine christlich-jüdische Tradition, der sich die CDU besonders verbunden fühlt, und die historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und bilden unsere Leitkultur.« Die umständliche Formulierung legt Zeugnis davon ab, wie schwer sich die CDU mit dem Begriff tut. So unumwunden wie ihr CSU-Pendant Horst Seehofer würde die CDU-Vorsitzende Angela Merkel nie formulieren: »Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multi-Kulti ein.« Doch der offensive rhetorische Gestus vermag die Geburt des Begriffs aus der Defensive nicht abzuschütteln. »Leitkultur« ist ein wärmendes Konstrukt gegen die kühle Einsicht, dass Deutschland eben doch ist, was die Union so lange geleugnet hat: ein Einwanderungsland.
Mit Blick auf sieben Millionen Ausländer, mit denen das Zusammenleben »in vielen Teilen problemlos, ja selbstverständlich« klappe, macht sich der damalige CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz den Begriff im Oktober 2000 zu eigen. Es sei klar, »dass Deutschland in den nächsten Jahren eher mehr als weniger, zumindest aber eine andere Zusammensetzung der Zuwanderung dringend braucht«. Einwanderung und Integration könnten aber nur gelingen, wenn das Aufnahmeland »tolerant und offen« ist und die Zuwanderer bereit seien, »die Regeln des Zusammenlebens« zu akzeptieren. Diese nennt Merz »freiheitliche deutsche Leitkultur«.
Begriffsgefäss Der CDU-Politiker nahm damit eine Formulierung des Sozialwissenschaftlers Bassam Tibi auf, der sich für eine »europäische Leitkultur« ausgesprochen hatte, als Gegenentwurf zur völkischen Bestimmung der Nation. Europäische Leitkultur beruht nach Ansicht des Politikwissenschaftlers auf westlichen Vorstellungen: »Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.« Merz füllt das Begriffsgefäß weiter, indem er außer der deutschen Sprache die »Verfassungstradition unseres Grundgesetzes« hinzufügt sowie die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Diese sei auch von denen zu akzeptieren, die »überwiegend aus religiösen Gründen« ein anderes Verständnis hätten.
Auch im Hinblick auf den Religionsunterricht und vieles andere sei die Entstehung von Parallelgesellschaften nicht zu dulden. So viel zur Religion. Es folgt eine heftige, von breiter Ablehnung gekennzeichnete Diskussion. »Was soll das Gerede von Leitkultur«, fragte Paul Spiegel sel. A., der damalige Präsident des Zentralrats der Juden. »Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?«, fügte er unter dem Eindruck ausländerfeindlicher und antisemitischer Anschläge hinzu. Das Grundgesetz erkläre die Würde des Menschen für unantastbar, »nicht nur die des mitteleuropäischen Christen«. Damit ist die Karriere der Leitkultur erst einmal beendet.
Fünf Jahre später bedauert Bundestagspräsident Norbert Lammert, dass die Diskussion »voreilig abgebrochen« worden sei und kritisiert die »reflexartige Ablehnung des Begriffes«, obwohl sich herausgestellt habe, dass es »breite Zustimmung für das gab, worum es in der Debatte ging«. Vorsichtig hebt der CDU-Politiker hervor, dass religiöse Überzeugungen einen wesentlichen Beitrag zu einer als allgemeinverbindlich akzeptierten kulturellen Orientierung leisteten.
Christlich-abendländisch Ein Jahr nach Paul Spiegels Tod 2006 taucht die Leitkultur im neuen Grundsatzprogramm der CDU auf. Indem sie sich zum »Integrationsland« bekennt, braucht die Partei offenbar ein geistiges Gegengewicht. Die Leitkultur bündelt nun die »kulturellen und historischen Erfahrungen«, die Grundlage für das Zusammenleben in Deutschland seien. Ihr Katalog reicht von der Sprache bis zum deutschen und europäischen Grundwertekanon. Der Respekt vor der Freiheit des religiösen Bekenntnisses wird ebenso genannt wie das besondere Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Deutschland. Ist es böswillig zu übersetzen: die trotz Religionsfreiheit privilegierte Position der christlichen Kirchen? Auf ihrem Parteitag 2008 bekennt sich die CDU dann zu ihrer »christlich-abendländischen Herkunft«. Vom Judentum noch keine Spur.
Das findet erst Eingang in die Sprache der Partei als Antwort auf die Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum Tag der Deutschen Einheit 2010. »Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.« Vier Sätze – eine Provokation für viele in der Union und andere, die dem Integrationskritiker Thilo Sarrazin zujubeln.
Kulturkampf Der Bundespräsident hat Christentum, Judentum und Islam in einem, mindestens aber eineinhalb Atemzügen genannt, um integrierend zu wirken. In ihrer Antwort schneidet die CDU den Islam als Integrationsbestandteil ab. Das Judentum aber wird als schützender Schild gegen das immer noch als fremd Empfundene genutzt. Der Publizist Adam Soboczynski kritisiert den Versuch, sich seiner »in missbräuchlicher Hinsicht, nämlich im Sinne eines Kulturkampfs zu bedienen«. Sein Urteil: »Eine tückischere Umarmung lässt sich kaum denken.« Es gibt in der CDU aber auch andere Antworten auf die Rede des Staatschefs. Wolfgang Schäuble nennt sie »schlicht die Wahrheit«. Der Weg, den Christan Wulff aufgezeigt habe, entspreche »der Welt des 21. Jahrhunderts«. Zum Leitkulturantrag schweigt er.