Fussball

Lasst sie spielen!

Die Faszination des Sports ist ungebrochen, auch nach der WM-Auftaktniederlage des deutschen Teams am vergangenen Sonntag. Foto: Reuters

Wo ist nur das Sommermärchen geblieben? 2006 hat es der Fußball geschafft, Deutschland lässig zu machen. Jeder Gast war ein Freund, egal in welchem Trikot. 2014 wurde ein mit sich selbst versöhntes Land Weltmeister, Leistungsträger wie Jérôme Boateng, Mesut Özil und Sami Khedira lebten das Wunder der Integration.

Nur vier Jahre später scheint wenig davon übrig. Die Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan werden ausgepfiffen, weil sie im Wahlkampf mit dem türkischen Präsidenten posiert haben und das nicht nachvollziehbar erklären können. Eine Mehrheit der Deutschen will beide nicht mehr im Team sehen. Aus und vorbei, der Zauber des Fußballs?

widerspruch Von wegen. Die ersten Tage der WM zeigen, dass die Faszination des Spiels ungebrochen ist, auch nach der Auftaktniederlage des deutschen Teams. Aber das Land hat sich verändert. Über die Flüchtlingsfrage und in der Krise der westlichen Demokratien hat sich der Ton verschärft. Menschen, die deutsche Werte gegen Einwanderer verteidigen wollen, verunglimpfen die gewählte Kanzlerin als Volksverräterin und drohen der Bundestags-Vizepräsidentin. Der Widerspruch fällt vielen gar nicht auf.

Dass in so einer Atmosphäre die Sehnsucht groß ist, »Die Mannschaft« könne Gemeinsamkeit stiften, liegt auf der Hand. Während den Parteien und Gewerkschaften die Mitglieder davonlaufen, ehrenamtliche Bürgermeisterämter unbesetzt und die Kirchen leer bleiben, sind die Stadien voll. König Fußball hat eine absolutistische Macht nicht nur gegenüber allen anderen Sportarten, er hat auch gesellschaftlich riesige Bedeutung erlangt. Fußballprofis sollen Antworten auf alle Fragen liefern. Zu Gaza und zur Ukraine, als Botschafter für Menschenrechte – und zugleich für Gazprom und Katar.

All dies ist eine Überforderung mit Ansage. Im so überhitzten gesellschaftlichen Klima muss eine politisch dumme Aktion zweier türkischstämmiger Nationalspieler zur Staatsaffäre werden. Pathologisch ist dabei die Unversöhnlichkeit in den Reaktionen. Für die einen haben Özil und Gündogan endgültig bewiesen, dass Integration und Multikulti Augenwischerei sind. Für die anderen machen die Pfiffe gegen eigene Nationalspieler deutlich, dass die Deutschen ewige Rassisten sind.

integrationsmaschine Die Affäre zeigt, dass die Realität auch in Sachen Integration komplexer ist als 90 Minuten auf dem Platz. Trotzdem gilt: Fußball ist eine Integrationsmaschine. Gerade in Deutschland, das sich traditionell nicht als Einwanderungsland versteht. Mag man in der Schule unter sich bleiben und bei religiösen und kulturellen Bräuchen getrennt sein – auf dem Bolzplatz lernen deutsche und türkische Jungs sich seit Jahrzehnten kennen.

Und als deutsche Jugendliche in den 80er- und 90er-Jahren häufiger zum Tennis, zum Basketball oder vor die Spielekonsole abwanderten, waren es die Kinder der Einwanderer, die vielerorts die Fußballvereine am Leben hielten.

Natürlich vereint Sport nicht nur, er trennt auch. Natürlich gibt es italienische, türkische oder griechische Vereine, in denen Einwanderer unter sich bleiben. Aber sie sind Ausnahmen. Und selbst für sie gilt: Wer – elf gegen elf – um Punkte kicken will, braucht ein anderes Team. Nicht von ungefähr ist Fußball ein Mittel der Sozialarbeit in Tausenden von Projekten: für schwer erziehbare Jugendliche; für Flüchtlinge; für Mädchen aus muslimischen Familien; für Menschen mit Handicap ... Fußball spielen sie alle.

Und es wirkt. Fußball ist ein Spiel mit einfachen Regeln, über das Fair Play, Respekt, der Umgang mit Sieg und Niederlage vermittelt werden, eines, das Selbstbewusstsein speist und in dem man Kameradschaft ebenso ausleben kann wie Ehrgeiz, Aggression und Rivalität. Es gibt keinen anderen Teil des deutschen Alltags, in dem all dies möglich ist – über soziale und kulturelle Grenzen hinweg.

alltag Das heißt nicht, dass der Alltag an der Auslinie stehenbleibt. Wer wüsste das besser als die Makkabi-Teams, die beim Kicken antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind? Chancen und Grenzen des Fußballs kann man am Beispiel Makkabi Berlin zusammenfassen. In der Kabine kommen elf Jungs verschiedener Herkunft zusammen, die meisten von ihnen keine Juden, alle tragen Trikots mit Davidstern, fassen sich an den Händen und brüllen: »Makkabi Chai!« Und auf dem Platz werden sie dann, wenn sie Pech haben, alle als »Judensau« beschimpft.

Der Fußball kann Wunder bewirken, aber das Wesentliche an Wundern ist, dass sie selten vorkommen. Wir sollten dem Fußball seine überragende Rolle als Pause vom Alltag lassen statt alles in ihn hineinzuprojizieren, was der Alltag zu bieten hat. Fußballer werden in Russland nicht in vier Wochen die Konflikte befrieden, die Politiker nicht lösen können. Und 23 Männer mit dem Adler auf der Brust werden keine Gesellschaft aussöhnen, die sich darin gefällt, beim kleinsten Anlass unbarmherzig übereinander herzufallen.

Studien beweisen, dass große Fußballturniere die Zufriedenheit steigern. Vielleicht braucht es diese Stimmung, damit wir uns an ein paar einfache Wahrheiten erinnern: dass jeder, der spielt, Fehler macht; dass die Regeln universell sind und für alle gelten; dass man anständig verlieren und rücksichtsvoll gewinnen kann; dass Erfolg Teamarbeit voraussetzt; dass ein Team nicht durch Hautfarbe, Weltanschauung oder Herkunft bestimmt wird, sondern durch das Wappen auf der Brust. Und vor allem: dass Fußball nur ein Spiel ist. Das ist nicht viel, aber zugleich eine ganze Menge. Ob wir uns darauf einlassen, müssen wir selbst entscheiden.

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

USA

Grenell könnte amerikanischer UN-Botschafter werden

Während seiner Zeit in Berlin machte sich Grenell als US-Botschafter wenig Freunde. Nun nennt Präsident Trump seinen Namen mit Blick auf die Vereinten Nationen. Aber es sind noch andere im Rennen

 01.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  01.04.2025

Judenhass

Todesstrafen wegen Mordes an Rabbiner in Emiraten

Ein israelischer Rabbiner wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten getötet. Der Iran wies Vorwürfe zurück, die Täter hätten in seinem Auftrag gehandelt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt

von Sara Lemel  31.03.2025

Vereinten Nationen

Zweite Amtszeit für notorische Israelhasserin?

Wird das UN-Mandat von Francesca Albanese um drei Jahre verlängert? Das Auswärtige Amt drückt sich um eine klare Aussage

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Türkei

Erdoğan: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören«

Ein antisemitisches Statement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan löst einen Streit mit dem jüdischen Staat aus

 31.03.2025