»Schwer erträglich«, »beschämend«, »skandalös«, »destruktiv«: Die erste Sitzung des Thüringer Landtags ist im Chaos mit Ordnungsrufen, Unterbrechungen, rhythmischem Klatschen von Abgeordneten, lautem Lachen und Zwischenrufen wie »Rechtsbruch!« versunken.
Sie geriet zur Dauerkonfrontation zwischen einer erstarkten AfD mit ihrem Rechtsaußen Björn Höcke an der Spitze und den vier anderen Fraktionen CDU, BSW, Linke, und SPD - und endete mit der Anrufung des Verfassungsgerichts durch die CDU-Fraktion, die anderen drei schlossen sich an.
Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, sprach vom letzten Mittel, damit Thüringens Parlament überhaupt arbeitsfähig wird. Die Sitzung wurde danach unterbrochen, bis die höchsten Thüringer Richter entschieden haben. Voraussichtlich am Samstag startet das Parlament einen zweiten Anlauf.
Demokratie am »Nasenring«
»Es ist eine Katastrophe, wie die AfD die Demokratie am Nasenring durch die Manege treibt«, schimpfte die Fraktionsvorsitzende der Wagenknecht-Partei, Katja Wolf. CDU-Mann Bühl sagte: »Was Sie hier betreiben, ist Machtergreifung.«
Nach vielen Stunden hatte es der Landtag immer noch nicht geschafft, seine Beschlussfähigkeit zumindest festzustellen. Eigentlich sollte ein Landtagspräsident gewählt werden - darum ging es letztlich bei dem Kräftemessen. Die AfD pochte als stärkste Fraktion mit 32 von 88 Abgeordneten auf ihr Vorschlagsrecht.
Nach Einschätzung der Landtagsverwaltung würde sich dieses Vorschlagsrecht nach mehreren gescheiterten Wahlgängen abnutzen. Die AfD sieht das anders. CDU und BSW wollen nun eine Regeländerung erreichen, dass alle Fraktionen Kandidaten für das zweithöchste Staatsamt vorschlagen können.
Sie wollten der AfD, die in Thüringen vom Landesverfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft ist, das Spitzenamt im Parlament nicht überlassen. Doch so weit kam es nicht. »Es zeigt, dass der Alterspräsident nicht unparteiisch agiert, sondern im Prinzip als Höcke-Puppe und er tritt die Demokratie im hohen Haus mit Füßen«, sagte CDU-Fraktionschef Mario Voigt.
Was im Landtag passierte
Über mehrere Stunden redete der Alterspräsident der AfD, Jürgen Treutler. Er reagierte auf Anträge der anderen Fraktionen, zumindest die Beschlussfähigkeit festzustellen, mit immer neuen, langen Unterbrechungen. Treutler weigerte sich, Abgeordneten das Wort zu erteilen. »Ich entziehe Ihnen das Wort«, ging er etwa Bühl an. Die erste Sitzung des Thüringer Landtags knapp vier Wochen nach der Wahl wurde damit zum erwarteten Politikspektakel und einem Tauziehen zwischen einer AfD, die erstmals in Deutschland die stärkste Fraktion stellt, sowie CDU, BSW, Linke und SPD auf der anderen Seite.
Janine Merz, parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, warf Treutler vor, Abgeordnetenrechte nicht nur einzuschränken, sondern wegzunehmen. »Sie haben dem Landtag großen Schaden zugefügt«, sagte der CDU-Abgeordnete Bühl in Richtung Treutler. »Sie haben ihre Rolle als Alterspräsident überhöht.« Der parlamentarische Geschäftsführer des BSW, Tilo Kummer, wurde noch deutlicher: »Sie erklären dieses Parlament für unmündig.« Treutler verstoße mit seinem Verhalten »gegen die freie Ausübung des Mandats aller 88 Abgeordneten hier im Haus«.
Vorwurf des Verfassungsbruchs
CDU-Mann Bühl betonte, dass Treutler nicht nur die Abgeordnetenrechte, sondern auch das Demokratie-Prinzip eingeschränkt sieht, das Abstimmungen verhindert worden seien. Der Alterspräsidenten habe an mehreren Stellen die Verfassung gebrochen. Es gehen auch um den Schutz des demokratischen Handelns und das Ansehen der Institutionen.
Bühl sagte, man wolle beim Verfassungsgerichtshof einen einstweiligen Erlass beantragen, mit dem Ziel, dass Treutler nach der von der bisherigen Landtagspräsidentin erstellten Tagesordnung verfährt und eine Abstimmung über die Änderung der Geschäftsordnung durchführt.
Der AfD-Abgeordnete und Co-Landesparteichef Stefan Möller warf den Abgeordneten von CDU, BSW, Linke und SPD vor, »sämtliche Anstandsregeln« über Bord geworfen zu haben. Die Sitzung sei eine Katastrophe, sagte Möller. Vorwürfe gegen das Agieren des Alterspräsidenten wies er zurück. Es gebe unterschiedliche Rechtsauffassungen zum Ablauf der Sitzung. »Notfalls müssen wir das eben vor Gericht klären.«
Die Landtagssitzung stand auch irgendwie unter dem Endruck eines Ereignisses vor gut vier Jahren: In Thüringen erinnern sich viele noch an die Ministerpräsidentenwahl 2020, als die AfD einen Scheinkandidaten aufstellte, den sie nicht wählte, sondern stattdessen dabei half, den FDP-Politiker Thomas Kemmerich in das Amt zu hieven.