Berlin

Lagebild Antisemitismus: Verfassungsschutz sieht großes Dunkelfeld

Anti-Corona-Großdemo im August 2020 am Brandenburger Tor Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE

Antisemitische Ideen dringen nach Einschätzung des Verfassungsschutzes bis in die Mitte der Gesellschaft vor. »Es ist erschreckend, dass antisemitische Narrative mitunter bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft anschlussfähig sind und als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien dienen«, sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, am Mittwoch anlässlich der Veröffentlichung des aktuellen Lagebildes Antisemitismus.

»Dies haben wir zunehmend bei den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen oder bei Kundgebungen zum Nahost-Konflikt gesehen und nehmen es aktuell auch vereinzelt im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wahr.«

In dem Lagebericht heißt es, dass mit dem Beginn der Impfungen gegen Covid-19 Ende 2020 die mitunter antisemitisch gefärbte Agitation der Corona-Protestszene weiter an Bedeutung gewonnen. Impfgegner behaupteten demnach beispielsweise, Juden versuchten »nun auch mittels Impfungen, ihre Pläne zur Erringung der Macht über die Menschheit zu verwirklichen«.

straftaten Die in der Polizeistatistik aufgeführte Zahl antisemitischer Straftaten steige kontinuierlich an. Es sei aber davon auszugehen, dass hier lediglich »die Spitze des Eisbergs« sichtbar werde. »Wesentlich größer ist das Dunkelfeld, also diejenigen Vorfälle, die aus verschiedenen Gründen gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden«, sagte Haldenwang. Im Jahr 2020 waren von den Polizeibehörden bundesweit 2351 antisemitische Straftaten registriert worden – ein Anstieg um mehr als 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Der aktuelle Bericht des Verfassungsschutzes umfasst den Zeitraum von Sommer 2020 bis Herbst 2021.

»Das Internet dient als Nährboden und stellt einen wesentlichen Dynamisierungsfaktor im aktuellen Antisemitismus dar«, so Haldenwang. Es sei gemeinsame Aufgabe der Sicherheitsbehörden und der Zivilgesellschaft, jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.

Gefahr Zentralratspräsident Josef Schuster sagte am Mittwoch: »Die differenzierte Analyse der unterschiedlichen Formen des Antisemitismus durch das Bundesamt für Verfassungsschutz macht die Gefahr deutlich, die vom Antisemitismus ausgeht.« Im gewaltorientierten Rechtsextremismus gebe es laut Verfassungsschutz eine offene Zustimmung zum eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Über die sogenannte Querdenker-Szene fänden Rechtsextremisten inzwischen leicht Zugang zu Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

»Zudem gibt es enge Verbindungen zwischen der AfD und der rechtsextremen Szene. Diese Verknüpfungen sind brandgefährlich«, betonte Schuster. Hinzu komme der israelbezogene Antisemitismus, der in unterschiedlichen politischen Lagern anzutreffen ist. »Der Kampf gegen den Antisemitismus muss in den Schulen beginnen und dann in allen Bereichen der Gesellschaft fortgesetzt werden. Die Antisemitismus-Warnlampe leuchtet dunkelrot«, sagte der Zentraratspräsident.

In seinem Lagebild zitiert der Verfassungsschutz unter anderem aus einem Grundsatzpapier der NPD-Jugendorganisation von 2021, in dem ein Gegensatz zwischen Arabern und Juden auf der einen Seite und der »nordisch-germanischen Art Europas« auf der anderen Seite konstruiert wird. Der Inlandsgeheimdienst kommt insgesamt zu dem Schluss, dass die Partei Die Rechte »von allen rechtsextremistischen Parteien ihren Antisemitismus am offensten propagiert«.

israel Im Lager der sogenannten Neuen Rechten seien unterschiedliche Positionen erkennbar. Eine Gruppe sehe sich »in einer christlich-jüdischen Tradition« stehend, die es gegen den Islam und den Islamismus zu verteidigen gelte. Eine andere Gruppe sei israelkritisch und sehe den »ideologischen Hauptfeind« stärker im Liberalismus als im Islamismus.

Auch das von Islamisten verbreitete antisemitische Gedankengut stelle »eine erhebliche Herausforderung für das friedliche und tolerante Zusammenleben in der Bundesrepublik dar«. Eine Häufung antisemitischer Vorfälle im Mai 2021 zeuge zudem davon, dass insbesondere eine Eskalation des Nahost-Konflikts auch in Deutschland »zu einer erheblichen Emotionalisierung der muslimischen Bevölkerung bis hin zu gewaltsamen Angriffen führen kann«.

»Viele der antisemitischen Straftaten finden online statt.«

Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung

Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes wird neben bestimmten rechtsextremistischen Internet-Plattformen und Foren auch der Messengerdienst Telegram »auffällig häufig für die Verbreitung antisemitischer Beiträge genutzt«. Er trage damit »zur Verfestigung eines antisemitischen Weltbilds zumindest innerhalb seiner Nutzerschaft bei«.

reaktionen »Es ist eine Schande für unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute verbreitet wird«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Beschämend sei auch, »wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde«.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sieht mit Blick auf den veröffentlichten Bericht die Corona-Pandemie als Katalysator für Judenfeindlichkeit in Deutschland. Sie habe wie ein Brandbeschleuniger für Antisemitismus gewirkt, sagte Klein der »Welt« (Donnerstag).

Der aktuelle Bericht des Verfassungsschutzes umfasst den Zeitraum von Sommer 2020 bis Herbst 2021. Damit wird das erste Lagebild fortgeschrieben, das im Juli 2020 vorgestellt worden war. Antisemitismus ist demnach nach wie vor in allen extremistischen Bereichen verbreitet. So untersucht der Bericht unter anderem Antisemitismus bei Rechtsextremisten, bei sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern, im Linksextremismus sowie im Islamismus und Ausländerextremismus.

jahresbilanz Die Sicherheitsbehörden verzeichnen den Angaben zufolge in Deutschland seit 2015 einen Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten. Im Jahr 2020 hatte deren Zahl mit 2351 ihren höchsten Stand seit der Erfassung im Jahr 2001 erreicht. Die Zahl für 2021 soll im Mai vorgelegt werden, wenn die Jahresbilanz zur politisch motivierten Kriminalität gezogen wird.

Klein erklärte, viele Milieus, die bisher für sich gestanden hätten, seien inzwischen miteinander verbunden. Dazu kämen ein immer offener geäußerter israelbezogener Antisemitismus in allen Milieus und fortgesetzte Angriffe auf die Erinnerungskultur. »Viele der antisemitischen Straftaten finden online statt, in Form von Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung, Holocaustleugnung«, so Klein. Es sei richtig, dass Hasskriminalität und Hetze nun härter und effektiver verfolgt würden. Der seit Jahren anhaltende Prozess der Verlagerung von antisemitischer Agitation in den digitalen Bereich ist laut Lagebild durch die Corona-Pandemie verstärkt worden.

Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees in Berlin, Christoph Heubner, zeigte sich »dankbar, dass der Verfassungsschutz die Entwicklung so deutlich beleuchtet und diese schonungslose und ehrliche Analyse vorlegt«. Für Überlebende des Holocaust sei die in dem Bericht festgehaltene Entwicklung »ein bestürzendes Signal der Vergesslichkeit und des alten und des neuen Hasses, der jüdischen Menschen immer wieder entgegengebracht wird«. dpa/kna

Meinung

Eine Bankrotterklärung des Feminismus

Am Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen schweigen die meisten feministischen Organisationen zu den Jüdinnen in Hamas-Geiselhaft. Ein Kommentar von Sharon Adler

von Sharon Adler  25.11.2024

Meinung

Der Rubikon ist längst überschritten

Eine »globale Intifida« breitet sich auch im Westen aus. Es wäre an der Zeit, dass Regierungen klare rote Linien einziehen

von Jacques Abramowicz  25.11.2024

Meinung

Slowik muss sich an Golda Meir ein Vorbild nehmen

Die Berliner Polizeipräsidentin hat Juden zur Vorsicht vor arabischstämmigen Menschen gemahnt. Das ist das falsche Signal

von Sigmount A. Königsberg  25.11.2024

Karlsruhe

Bundesanwaltschaft klagt mutmaßliche Hamas-Mitglieder an

Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung

 25.11.2024

Berlin

Sicherheitsvorkehrungen für israelisches Basketball-Team

In der Euroleague steht das Spiel Alba Berlin gegen Maccabi Tel Aviv an, die Polizei bereitet sich vor

 25.11.2024

USA

Trump und das »Projekt 2025«

Mitverfasser des radikalen Plans sollen in Trumps Regierung Schlüsselpositionen übernehmen

von Bill Barrow  25.11.2024

Meinung

»No-Go-Areas« für Juden: Die Geschichte wiederholt sich

Schon in den 1920er Jahren konnte der deutsche Staat nicht alle seine Bürger schützen

von Boris Itkis  25.11.2024

Meinung

Nan Goldin: Gebrüll statt Kunst

Nach dem Eklat in der Neuen Nationalgalerie sollte Direktor Klaus Biesenbach zurücktreten

von Ayala Goldmann  25.11.2024

ICC-Haftbefehl

Irans »Oberster Führer« fordert Todesstrafe für Netanjahu

Der Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsident Netanjahu reicht Ayatollah Ali Khamenei nicht

 25.11.2024