Im Rollstuhl wird der Angeklagte in den Verhandlungsraum geschoben, eine rote Akte hält er vor sein Gesicht, um sich vor den Kameras der Journalisten zu schützen. Gegen den 100 Jahre alten ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin hat am Donnerstag der Prozess um die Massentötungen in dem Lager begonnen.
Die Verhandlungen des Landgerichts Neuruppin finden unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in einer Sporthalle in Brandenburg/Havel statt. Dazu sind zahlreiche Berichterstatter aus dem In- und Ausland angereist.
Der Angeklagte will sich in dem Prozess nicht zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft äußern. Dies erklärte sein Verteidiger Stefan Waterkamp beim Auftakt des Prozesses. Sein Mandant wolle sich aber am Freitag zu seinen persönlichen Verhältnissen äußern, soweit dies nicht die Vorwürfe betreffe. Er soll zwischen 1942 und 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen nahe Berlin als Wachmann der SS Beihilfe zur Ermordung von Lagerinsassen geleistet haben. Laut Anklage geht es um mindestens 3518 Fälle.
Ausführlich beschrieb Staatsanwalt Cyrill Klement bei der Verlesung der Anklage die systematischen Tötungen von Tausenden während der Jahre 1941 bis 1945. Dazu gehörten Massen-Erschießungen in speziellen Anlagen, Vernichtungsaktionen in Gaskammern und das Sterben durch Entkräftung und Krankheiten. »Der Angeklagte unterstützte dies wissentlich und willentlich zumindest durch gewissenhafte Ausübung des Wachdienstes, die sich nahtlos in das Tötungssystem einfügte«, so Klement.
In dem Lager waren von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert, unter ihnen politische Gegner des NS-Regimes sowie Angehörige der von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen wie Juden und Sinti und Roma.
Zehntausende Häftlinge kamen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen ums Leben oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS. Nur noch wenige der Täter sind heute am Leben und nur wenige der Opfer, die damals dem Tod entkommen konnten.
Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, zeigte sich enttäuscht über das Schweigen des Angeklagten. »Und nun hoffen wir, wenn Angehörige hier aussagen über die Ermordung ihrer Väter in Sachsenhausen - dass diese Emotion vielleicht den Hintergrund des Angeklagten erreicht und dass er Bereitschaft zeigt, um Worte zu finden, eine menschliche Brücke herzustellen zwischen seiner Geschichte und dem Leiden der Anderen.«
Es gebe nur ganz wenige Ausnahmen von SS-Leuten, die gesprochen haben, berichtete Heubner. Die übergroße Mehrheit habe ihr Leben lang geschwiegen und sich in der Normalität ihres Lebens eingerichtet. »Für die Überlebenden ist das eine weitere Zurückweisung, das ist wie im Lager: Man war Ungeziefer, man war irgendwo da unten, man wurde nicht angesprochen und nicht angeschaut - man wurde einfach angebrüllt«, erklärte Heubner. Dies sei für die Überlebenden und Angehörigen, die als Zeugen zum Prozess angereist seien, bitter.
Auch der Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther sagte, er hoffe darauf, dass der Angeklagte im Laufe des Prozesses sich noch erklären wird. »Das war zu erwarten. Aber die Tatsache, dass jetzt nichts gesagt wird, sagt nichts darüber aus, dass nicht noch irgendwann gesprochen wird.« Es hänge davon ab, inwieweit die Öffentlichkeit oder das Gericht den Angeklagten noch erreichen könnten.
»Es ist der letzte Prozess für meine Freunde, Bekannte und meine Lieben, die ermordet worden sind, bei dem der letzte Schuldige noch verurteilt wird, hoffentlich«, sagte der Holocaust-Überlebende und Zeitzeuge Leon Schwarzbaum zum Prozessbeginn.
Schwarzbaum wurde 1921 in Hamburg geboren und überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Sachsenhausen. Er berichtet seit Jahrzehnten über seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus und war zum Prozess als Zuschauer angereist.
Für den Prozess hat das Gericht insgesamt 22 Verhandlungstage bis in den Januar hinein angesetzt. Da der 100-Jährige von einem Gutachter für eingeschränkt verhandlungsfähig erklärt worden ist, kann das Gericht nur wenige Stunden am Tag verhandeln.