Diplomatie

Kurswechsel?

In Solidarität mit der Ukraine: Kundgebung im Oktober 2022 in Jerusalem Foto: Flash90

Als vor einem Jahr schwere Militärfahrzeuge rund um die Ukraine auffuhren, war klar: Die russische Invasion steht kurz bevor. Die Welt hielt den Atem an, und auch in Jerusalem wurde die Unruhe zunehmend größer. Regierungsvertreter besprachen sich hektisch mit internationalen jüdischen Organisationen, um das Ausmaß der Bedrohung für die jüdischen Gemeinden in beiden Ländern zu evaluieren. Bald jährt sich der Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine – und in Jerusalem gibt es eine neue Koalition.

Seit Beginn der Krise ist Israels Haltung ambivalent. Zwar reagierte der damalige Außenminister Yair Lapid sofort nach dem Beginn der Invasion mit einer Verurteilung, doch Naftali Bennett, seinerzeit Premier, hielt sich zurück. Sein Motto lautete: »Vermittlung statt Verteidigung«. Es war kein Kurswechsel. Schon im Jahr 2014, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim nach einer bewaffneten Intervention annektierte, vermied man es, Stellung zu beziehen. Israel ist ein enger Verbündeter der USA, will jedoch gleichzeitig den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht verärgern, da es auf seine Kooperation in Syrien angewiesen ist.

zurückhaltung Doch die offene Invasion eines souveränen Staates ließ keine komplette Zurückhaltung mehr zu. »Krieg ist kein Weg, um Konflikte zu lösen«, betonte Außenminister Lapid. Die Invasion sei eine schwere Verletzung der internationalen Ordnung. Nach den russischen Morden an der Zivilbevölkerung in Butscha sprach er von »Kriegsverbrechen«. Doch auch Lapid weigerte sich, Waffen in die Ukraine zu liefern.

Im Wahlkampf erwog Benjamin Netanjahu noch, Waffen an die Ukraine zu liefern.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich darüber wiederholt zutiefst enttäuscht. Ende März sprach er per Videoschalte vor der Knesset. Während seine Holocaust-Vergleiche von einigen Abgeordneten scharf kritisiert wurden, zeigte die Mehrheit volles Verständnis für die verzweifelte Lage des Staatsmannes.

iron dome »In Israel weiß man, dass ›Iron Dome‹ das beste Raketenabwehrsystem ist«, sagte der Präsident der geschundenen Nation. »Bitte gebt es uns.« Damit könne Israel die eigenen Interessen verteidigen und gleichzeitig der Ukraine helfen. Jerusalem schickte stattdessen Schutzhelme und -westen.

Waffenlieferungen schienen für Jerusalem ein absolutes No-Go. Zu groß war offenbar die Angst, dass dadurch die Operationsfreiheit des israelischen Militärs gegen iranische Ziele in Syrien eingeschränkt werden könnte. Was nicht hieß, dass Israel den Schreckenstaten der Russen in der Ukraine tatenlos zusah. Der damalige Ministerpräsident Bennett versuchte zu Beginn des Krieges, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln, flog als erster westlicher Spitzenpolitiker nach Moskau.

Anschließend reiste er weiter nach Berlin und beriet sich mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Und nur einen Tag später telefonierte er dreimal innerhalb von 24 Stunden mit dem ukrainischen Präsidenten.
Außerdem lieferte Israel Tonnen humanitärer Hilfsgüter und baute ein komplettes Feldkrankenhaus im Westteil des umkämpften Landes auf. Einen Monat lang wurde »Kochaw Meir« von israelischen Ärzten und Pflegern vor Ort betrieben. Anschließend überließen sie den Ukrainern die gesamte Ausrüstung.

putin Der jetzige Premierminister Benjamin Netanjahu, der zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine nicht an der Macht war, vermied es monatelang, sich gegen den russischen Präsidenten Putin auszusprechen, zu dem er viele Jahre eine enge Beziehung pflegte. Aber während des Wahlkampfes im Herbst sagte er, er werde es erwägen, Waffen an die Ukraine zu liefern, sobald er im Amt sei.

Ob diese Worte ausschließlich Wahlkampftaktik waren, ist unklar. Denn schon in der Amtsantrittsrede sagte sein neuer Außenminister Eli Cohen, er werde eine »verantwortungsvolle neue Politik« zum Krieg in der Ukraine entwerfen. Dafür gab es Kritik aus Israel, der Ukraine und den USA. Einen Tag darauf telefonierte Cohen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow und machte klar: »In der Frage von Russland und der Ukraine werden wir eines sicher tun – weniger in der Öffentlichkeit sprechen.«

Vielleicht heißt es also auch mit der neuen Regierung in Jerusalem weiter: »Vermittlung statt Verteidigung«.

Sofort fragten sich Experten und die Medien, ob ein pro-russischer Kurswechsel in Jerusalem bevorstehen könnte. Sogar einer der engsten Verbündeten Israels im Kongress, der republikanische Senator Lindsey Graham, war entrüstet: »Die Idee, dass Israel weniger über Russlands kriminelle Invasion in der Ukraine sprechen soll, ist ein bisschen beunruhigend. Darüber zu schweigen, macht sich nicht gut.«

schadensbegrenzung Die Schadensbegrenzung folgte schnell. Hochrangige Beamte aus Jerusalem betonten, dass Lawrow um den Anruf bei Cohen gebeten habe. Die Worte des Ministers über das Schweigen würden auch nicht bedeuten, dass Israel Russland nicht öffentlich kritisieren solle. Stattdessen habe der Minister auf die Vermittlungsbemühungen des ehemaligen Premierministers Bennett abzielen wollen.

Jüngste Berichte besagen, dass der israelische Außenminister am Donnerstag mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba telefonieren wird. Vielleicht heißt es also auch mit der neuen Regierung in Jerusalem weiter: »Vermittlung statt Verteidigung«.

Washington D.C.

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