Diskussion, Streit und politischer Kampf: Wie ein überzeugter, zu allem bereiter Aufklärer die Sache sieht, wissen wir spätestens seit Voltaire. Man verabscheut die Meinung eines anderen womöglich, doch man gäbe sein Leben dafür, dass er sie äußern dürfe. Ihr Leben gaben sie nicht, die drei Bundesverfassungsrichter, die vergangene Woche einen Beschluss fassten, der einem Nazi-Gewalttäter nach seiner Haftentlassung die volle Meinungs- und Publikationsfreiheit gewährt. Aber ihre Unterschrift, ihren guten Namen, Brief und Siegel ihrer hochamtlichen Autorität. Der Triumph im rechtsradikalen Lager darob dürfte so sicher gewesen sein, wie es die gespaltene Reaktion der Öffentlichkeit war. Dass es braune Propaganda gibt, schlimm genug, nur wieso kann man nicht wenigstens einem verurteilten Rechtsterroristen das Maul verbieten? Die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes ist schließlich antastbar, das unterscheidet sie von der Menschenwürde; Meinungsfreiheit kann man einschränken, Menschenwürde nicht.
Die Richter müssen sich also fragen lassen, was sie da entschieden haben, sie müssen ihren Beschluss an anderen Urteilen des Gerichts messen lassen. Und wir, die Betroffenen wie die Betrachter, müssen uns fragen, ob solche Festlegungen zugunsten vermeintlicher Freiheit nicht doch eine Unwucht entwickeln – zulasten des Friedens, zulasten auch der schützenswerten Freiheit, von übler, menschenverachtender Hetze verschont zu bleiben.
Exzess Da aber kann man dem Staat kaum vorwerfen, er versuche nicht, den Mief des braunen Sumpfes wenigstens zu dämpfen, wenn er diesen schon nicht trockenlegen kann. In Deutschland gäbe es keine Meinungsfreiheit, jammern Neonazis. Weil ihre Symbolik unter Strafe steht, weil man Nazi-Größen nicht bejubeln und den Holocaust nicht leugnen darf. Doch, natürlich gibt es Meinungsfreiheit! Eine umfassende, starke, sogar bis zum Exzess tolerante und für unser Leben und unsere Demokratie »schlechthin konstituierende«, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat.
Kaum jemand kann mit seinen Meinungen hierzulande ernsthaft Gesetze verletzen, es sei denn – er ist Nazi. Denn in der Tat wenden sich einige wenige Strafgesetze gegen Rechtsradikale. Nicht gegen ihr politisches Agitieren, ihr heilloses Gerede von der jüdischen Weltverschwörung, ihre Haltung zu Israel oder den USA. Sondern nur gegen die allergröbsten Auswüchse, gegen die Herabwürdigung des Gedenkens Millionen Ermordeter, gegen die Aufstachelung zu neuen Grausamkeiten.
Es ist dies ein Mittelweg, den eine rechtsstaatliche Demokratie im Bewusstsein ihrer Geschichte gehen kann, auch eine, der die Freiheiten des politischen Prozesses und die Grundrechte heilig sind. Nur muss sie aufpassen, bei der Wanderung am Sumpfrand trittsicher zu bleiben. Es gelingt, alles in allem, ganz gut. Wer etwas über rechtsradikale Politik wissen will, kann sich einschlägige Schriften en masse besorgen, er kann Vereine oder Zeitungen gründen, ja er kann sogar ihre Repräsentanten wählen.
Es ist also Leben im Sumpf. Zugleich sitzen Hassprediger wie Horst Mahler für Jahre in Haft, und in Wunsiedel dürfen am Grab von Rudolf Heß keine Kränze mehr gebunden werden. Weil, wieder das Bundesverfassungsgericht, das Grundgesetz praktisch den Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft bildet. Deshalb, und nur deshalb, darf das umstrittene Sondergesetz zur Volksverhetzung, das die Verherrlichung des Nazi-Regimes unter Strafe stellt, bestehen bleiben, obwohl es nah an die Grenze zum Einzelfall-Gesinnungsstrafrecht geht – sie aber noch nicht überschreitet.
Maulkorb Es wäre daher falsch, den Karlsruher Wunsiedel-Beschluss von 2009 zum Anlass zu nehmen, den Nazis auf breiter Front Maulkörbe zu verpassen. Aus der Ausnahme sollte nicht auf eine neue Regel gefolgert werden. In dem vom Verfassungsgericht entschiedenen Fall ging es um die viel zu pauschal gefasste Anordnung, im Rahmen der Führungsaufsicht fünf Jahre lang nach der Haftentlassung kein »rechtsextremistisches oder nationalsozialistisches Gedankengut« mehr zu verbreiten. Wo aber solches Gedankengut anfängt und wo es endet, was zur Sanktion führt und was nicht – wer kann es sicher sagen? Anders verhält es sich, wenn einer die Nazi-Herrschaft preist: Israel scharf zu kritisieren, ist nun einmal etwas anderes, als Hitler zu verehren.
Auch die drei Karlsruher Richter gingen den nicht ungefährlichen Weg am Sumpfrand weiter, abwägend, umsichtig. Ins Rutschen sind sie nicht gekommen. Wer ein wichtiges Grundrecht massiv einschränken will, darf sich nicht mit Pauschalformeln begnügen. Sonst könnte es heißen: Im Zweifel für die Freiheit, auch die von Neonazis. Ihre Entscheidung war deshalb, auch wenn sie auf den ersten Blick schwer verständlich erscheint, konsequent und richtig. Ein neuer Radikalenerlass, diesmal aus Karlsruhe, hätte nur neue Konflikte geschaffen.
Der Autor ist Politikredakteur beim Berliner Tagesspiegel und Lehrbeauftragter für Rechtskommunikation an der Freien Universität Berlin.