Ein Blick aus Tel Aviv nach Berlin auf das sich dort abzeichnende Ergebnis der Bundestagswahl zeigt: nicht Krise, sondern Diversität, nur wenige Parteien – wahrscheinlich drei –, die das neue Regierungsbündnis stellen werden. Und es besteht sogar die Möglichkeit, dass nicht die stärkste Fraktion den Regierungschef stellen wird. Wir kennen das hier, und es wundert nicht.
In Israel herrscht in der Politik schon länger – eigentlich schon immer – die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit, wo verschiedene gesellschaftliche und kulturelle Beschreibungen nebeneinander, miteinander und gegeneinander existieren. Damit prallen auch verschiedene Wahrheiten frontal aufeinander. Nicht zuletzt kämpfen unterschiedliche Milieus nicht nur in Israel ständig um die wahre Definition des eigenen Selbstverständnisses. Mehr Liberalität zusammen mit mehr Klimaschutz ist nur eine dieser Selbstbeschreibungen. Und junge Wähler und Wählerinnen sind unberechenbar. Willkommen in der Moderne!
staatsideologie Dies geschieht gleichzeitig mit der immer enger werdenden hegemonialen Staatsideologie des Nationalismus. Das ist nicht widersprüchlich. Ganz im Gegenteil. Der Staat als Institution verengt sich, weil die Gesellschaften sich weiter öffnen. Nicht nur in Israel, auch in Deutschland bewegen sich die Menschen heute eher in weitmaschigen Netzwerken, in denen die Grenzen der Zugehörigkeit eher uneindeutig geworden sind, also in einer Mischung von vielen losen und wenigen engen Beziehungen. Was »Gesellschaft« heute heißt, lässt sich nicht mehr ohne Weiteres nach den überlieferten Begriffsstereotypen erschließen, hat sich aus nationalen Bezügen herausentwickelt zu weiter gefassten und gestreuten Netzwerken.
Das ist auch der Grund, warum sich eigentlich hier in Israel niemand wirklich wundert, dass nicht unbedingt die stärkste Fraktion den Regierungschef in der neu gewählten Regierung vom Juni dieses Jahres stellte. Warum sollte sie auch? Wäre das der Fall gewesen, dann wäre Benjamin Netanjahu immer noch Premierminister mit einem Viertel der Sitze im Parlament. Aber Naftali Bennett ist der amtierende Premier mit einer Partei mit sechs Sitzen, gerade mal fünf Prozent der gewählten Parlamentarier.
Aber nicht um die stärkste Fraktion geht es, sondern um Bündnisse aus mehreren Parteien. Es geht nicht mehr um den sogenannten Wählerwillen, als ob es so etwas überhaupt gäbe, sondern um die Kunst des Koalierens. Und danach geht es ums Regieren und Kompromisse, welche weder von Ideologie noch Populismus, sondern von real existierenden Problemen, wie zum Beispiel der Corona-Krise, bestimmt werden.
Sowohl Israel als auch Deutschland müssen improvisieren und sich laufend neu erfinden.
Insgesamt sind es acht Parteien, die in Israel die Regierung tragen. Deutschland mit wohl dreien hat es da sehr viel einfacher. Das Links-Rechts-Schema wird mehr und mehr zum politischen Zombie, und für die neuen Formationen gibt es noch keine wirklich relevanten Selbstbeschreibungen. Jedes Milieu kämpft um seine Idee, wie diese Identität aussehen soll. Es geht um Identitätspolitik. Auch das ist zukunftsweisend. Eine abgrundtiefe gegenseitige Abneigung der unterschiedlichen Milieus wird wohl Staaten in Zukunft zusammenhalten. Sowohl Israel als auch Deutschland müssen daher improvisieren und sich laufend neu erfinden.
neuerfindung Die Bennett-Regierung ist genau das, eine Neuerfindung. Es gibt nicht viel Gemeinsames außer das Miteinander gegen Netanjahu. Dazu kommt auch der Versuch der alten, aus Europa stammenden aschkenasischen Elite, das in ihren Augen von den orientalischen Juden eroberte Land wieder zurückzugewinnen. Diese Dimensionen erst erklären die paradoxe Situation, dass sich ein gewisses progressives linkes Milieu in Tel Aviv über einen Regierungschef freut, der aus der rechten Siedlerbewegung kommt. Und das mit Unterstützung einer islamistischen Partei. Damit wird Politik auch entpolitisiert. Auch das ist richtungsweisender rasender Stillstand.
Bei der Koalition in Israel geht es daher eher um Kategorien wie Selbsteinschätzung und Selbstwertgefühl. Das sind Fragen, die wohl auch in Deutschland eine viel größere Bedeutung haben werden als die klassischen politischen Selbstbeschreibungen. Gängige Positionen wie links, rechts oder liberal sind hier nicht mehr anwendbar, eher wohl die neue Formel der Postdemokratie.
Das alles heißt auch, dass man von »der« Gesellschaft an sich nicht sprechen kann, vielmehr sind es zahlreiche und parallele Gesellschaften, die heute Staaten bevölkern. Auch das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches. Mehrere Gesellschaften innerhalb einer politischen Formation gibt es zur Genüge, diese Tatsache berührt auch die geografische und politische Existenz der jeweiligen Nation: Gesellschaften pluralisieren sich, und Staaten müssen ihre politische Souveränität neu definieren.
In dieser Hinsicht stellen Israel und Deutschland nichts Außergewöhnliches dar. Sie sind Teil der globalen Moderne. Dass wir in einer sich globalisierenden Welt leben, ist keine Frage mehr. Auch die Politik muss sich diesen neuen Beschreibungen beugen.
Der Autor ist Professor für Soziologie am Academic College of Tel Aviv-Yafo.