Berlin

Kühnert: »Sie geben das Ringen zunehmend auf« 

Kevin Kühnert, ehemaliger SPD-Generalsekretär, im Bundestag Foto: picture alliance/dpa

Es ist die allerletzte Rede einer denkwürdigen 20. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag. Am Pult steht Kevin Kühnert, der zu Beginn der Kanzlerschaft von Olaf Scholz als größtes Politiktalent der SPD galt. Vier Monate hat man nichts von ihm gehört, seit seinem Rücktritt als SPD-Generalsekretär aus gesundheitlichen Gründen.

Doch der 35-Jährige will dem Parlament noch etwas mitgeben: »Schützen wir das, was wir lieben, schützen wir unsere Demokratie«, appelliert er an die Abgeordneten. »Ich tue das in Zukunft von außen. Bitte tun Sie es von hier drin.«

Konkret geht Kühnert auf das Vorgehen der Union am vorvergangenen Mittwoch ein, als die AfD mit ihr und der FDP für eine Verschärfung des Asylrechts stimmte: »Ich möchte über das sprechen, was Michael Friedman Ihnen und uns allen ins Stammbuch geschrieben hat. Das wohl prominenteste Gesicht der jüdischen Community attestiert der CDU eine katastrophale Zäsur, ein unentschuldbares Machtspiel.«

»Kein Stein mehr auf dem anderen«

»Friedman hat geschlussfolgert, dass wenn der AfD zu immer mehr Macht verholfen wird, er hier nicht mehr leben kann«, so Kevin Kühnert. »Ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens sagt das und tritt aus der CDU aus. Es gab Zeiten, da wäre anschließend in der CDU kein Stein auf dem anderen geblieben. Heute wird der Störenfried angestrengt ignoriert«, sagt er und kritisiert CDU-Chef Friedrich Merz auch persönlich.

Kühnert wird dem nächsten Bundestag nicht angehören, er kandidiert nicht mehr, macht auch keinen Wahlkampf für seine Partei. Im Oktober musste er sich eingestehen: Er kann nicht mehr. »Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden«, schrieb Kühnert damals.

Wie es ihm heute geht, weiß man nicht. »Vernünftig«, sagte der mit Kühnert auch persönlich befreundete Parteichef Lars Klingbeil neulich. Sie hätten sich über die US-Wahlen ausgetauscht - »und da merkt man schon, der ist immer noch hochpolitisch«.

Kühnert hält demokratische Grundsatzrede

Das spürt man auch am Rednerpult des Bundestags. Kühnert spricht schnell, er hat als letzter Redner wenig Redezeit. Was er sagt, hätte gut reingepasst in die hochemotional geführte Debatte der vergangenen Wochen, als die Union in Kauf nahm, bei Anträgen und einem Gesetzentwurf auf die Stimmen der AfD angewiesen zu sein. 

Gut möglich, dass genau dieser Eklat Kühnert zu seinem letzten Auftritt motiviert hat. Er spricht von Verantwortung vor der Geschichte und richtet mahnende Worte ans Plenum. Die Politik müsse das Ohr am Volk haben, ihm aber nicht nach dem Mund reden, sondern auch mal etwas zumuten.

Kanzler wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl hätten für ihre Überzeugung gerungen. »Viele von Ihnen haben vermutlich weiterhin die innere Überzeugung, Rechtsradikale soll man rechts liegen lassen«, sagt der junge Berliner den Abgeordneten. »Das glaube ich Ihnen - aber Sie geben das Ringen zunehmend auf und das kritisiere ich.« 

Ein zweiter Abschied mit feuchten Augen

Es ist der Schlusspunkt einer Debatte, die den Bundestag 12 Tage vor der Wahl tief zerstritten hinterlässt. Bundeskanzler Olaf Scholz und sein aussichtsreichster Herausforderer Friedrich Merz lieferten sich noch einmal einen erbitterten Schlagabtausch. An dessen Ende bleibt die Frage offen, wie beide Parteien in möglichen Koalitionsverhandlungen wieder zum guten Ton und vertrauensvollen Umgang zurückfinden sollen.

Doch die fast vierstündige, letzte Bundestagssitzung vor der Wahl hatte auch emotionale Momente. Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas (CDU) verabschiedete sich zu stehendem Applaus aller Fraktionen außer der AfD sichtlich angefasst auf dem Platz der Vorsitzenden.

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Die sächsische CDU-Abgeordnete hatte ihren Rückzug zuvor auch mit dem erheblich rauer gewordenen gesellschaftlichen Klima begründet. Beleidigungen, Bedrohungen, Gleichgültigkeit, das alles habe ihr Kraft geraubt. 

Beethoven statt Bundestag

Auch weitere, teils langjährige Abgeordnete gehen neue Wege. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) möchte nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 2026 Ministerpräsident Winfried Kretschmann nachfolgen. Özdemir war 1994 das erste Mal in den Bundestag eingezogen und hatte seinen vorerst letzten Tag als Bundestagsabgeordneter.

»Das ist ein komisches Gefühl. Immerhin habe ich ja viel Zeit im Bundestag verbracht, schon in Bonn und jetzt hier in Berlin«, sagte der 59-Jährige. Etwas wehmütig blickte der Grünen-Politiker auf eine verpasste Chance: »Nach der Rede von Kevin Kühnert habe ich mir gedacht, eine Abschiedsrede wäre vielleicht auch nicht so schlecht gewesen«, sagte er. Seine Parteikollegin Renate Künast will mit 69 Jahren Platz für Jüngere machen. 

Der dienstälteste Abgeordnete, Peter Ramsauer von der CSU, sagt nach 34 Jahren im Bundestag »Servus«. Ihn ziehe es in die Musik, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. »Der Übungsraum für das Klavier ist eingerichtet, der Konzertflügel, der Große, ist auf Vordermann gebracht. Also es steht den ganzen 32 Beethoven-Sonaten und der ganzen Chopin-Literatur nichts mehr im Weg.«

Beleidigungen und Drohungen

Petra Pau von den Linken geht nach 27 Jahren Bundestag mit 61 Jahren - will aber weiter politisch aktiv bleiben. Im Gespräch mit der dpa kritisierte sie den Umgangston im Parlament. »Das hat sich in den letzten sechs, sieben Jahren auch im Parlament verändert, wie auch in der Gesellschaft.« Auch persönliche Angriffe, Diffamierungen, auch Aufrufe zur sehr persönlichen Auseinandersetzung hätten zugenommen.

Auch Ramsauer macht eine neue Rauheit im Umgang aus. »Was man sich alles bieten und gefallen lassen muss an Beleidigungen, an Drohungen, fast an die Grenze der Strafbarkeit gehenden Umgang mit einem, da braucht man schon ein richtig dickes Fell.« Nächster Bundestag wird kleiner

Weitere Abgeordnete können bisher nur ahnen, dass sie vielleicht gerade ihre letzte Bundestagssitzung mitgemacht haben. Das liegt auch daran, dass das neue Parlament bei seiner ersten Sitzung spätestens 30 Tage nach der Wahl kleiner sein wird. Das neue Wahlrecht begrenzt die Größe auf 630 Abgeordnete - statt 736 zuletzt. (mit ja)

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