Kein Zweifel: Im 19. Jahrhundert fand Martin Luther unter liberal und republikanisch gesonnenen Juden glühende Anhänger. »Aber dieser Martin Luther«, so Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, »gab uns nicht bloß die Freiheit der Bewegung, sondern auch das Mittel der Bewegung, dem Geist gab er nämlich einen Leib. Er gab dem Gedanken auch das Wort. Er schuf die deutsche Sprache.«
Auch der Publizist Saul Ascher, ein Zeitgenosse Heines und einer der schärfsten Kritiker des aufkommenden Antisemitismus, ein Mann, dessen Bücher von völkischen Studenten verbrannt wurden, lobte Luther.
Mehr noch: Manchen Zeitgenossen, die das Judentum reformieren wollten, galt dieser kompromisslose Bekämpfer des Antisemitismus als der »Luther des Judentums«. Das freilich wäre kaum möglich gewesen, wenn liberale und reformorientierte Juden in der Mitte des 19. Jahrhunderts Martin Luthers Schriften über das Judentum zur Kenntnis genommen hätten, Schriften, die damals erhältlich und einsehbar waren und von den Antisemiten eifrig genutzt wurden. Etwa von Hartmut von Hundt-Radowsky, der in seinem Pamphlet Die Judenschule aus dem Jahr 1822 auf judenfeindliche Bemerkungen aus Luthers Tischreden Bezug nimmt.
Blaupause Ob, wem und wie sehr und ab wann genau Luthers 1543 erschienene Schrift Von den Juden und ihren Lügen bekannt war, ist noch immer Gegenstand eines Streits unter Philologen. Kein Zweifel kann indes daran bestehen, dass diese Schrift – mit Ausnahme der Gaskammern – eine Blaupause all jener verbrecherischen Maßnahmen – von der Verbrennung von Synagogen über die Zwangsarbeit bis hin zur Vertreibung – enthält, die das nationalsozialistische Deutschland Europas Juden antat.
Entsprechend war es nur konsequent, dass ein thüringischer Landesbischof es hoch bedeutsam fand, dass in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, also Luthers Geburtstag, Deutschlands Synagogen brannten. Ebenso wie es schlüssig war, dass der antisemitische Hetzjournalist Julius Streicher in Nürnberg aussagte, dass an seiner Stelle Martin Luther vor dem internationalen Militärtribunal hätte stehen sollen.
Martin Luther war ohne jeden Zweifel ein theologisches und sprachschöpferisches Genie sowie ein bedeutender politischer Denker, eine Figur von welthistorischer Wucht wie nur wenige seinesgleichen. Dass der von ihm immer wieder stark gemachte Gegensatz von »Evangelium und Gesetz« – hier die in Christus widerfahrene Gnade, dort die Härte der in der Tora angedrohten Weisungen – den christlichen Antijudaismus weiter verstärkte und zuspitzte, wird dadurch, dass er in einer frühen Schrift feststellte, dass Jesus ein geborener Jude war, keineswegs gemildert.
Daher kann es keineswegs die Rolle von Juden sein, beim öffentlichen »Gedenken« an Luther mitzuwirken: Verstehen wir doch im Allgemeinen unter »Gedenken« einen verinnerlichenden, trauernden und auch erhebenden, einen, sei es religiösen oder auch weltlichen, liturgisch gestalteten Bezug auf die Opfer der Geschichte – Opfer, zu denen Martin Luther in keiner Weise gehört.
Reformjuden Umgekehrt wurden Juden zu Opfern seines theologischen und politischen Judenhasses, der über die lutherischen Kirchen, die lutherische deutsche Nationalideologie sowie die offen nationalsozialistischen »Deutschen Christen« nicht erst im Nationalsozialismus virulent wurde. Dass er manchen »Reformjuden«, die seine Judenschriften nicht kannten und daher vor dem Nationalsozialismus in hohem Assimilationswillen an Luthergedenkfeiern mitwirkten, als ein Liberaler galt, der er nicht war, ändert daran nichts. Aus Unkenntnis folgt kein Argument.
Anders jedoch, wenn es nicht ums Gedenken, sondern um das »Kritische Erinnern«, also um gesellschaftliche Formen der aufklärenden Vergegenwärtigung von Vergangenheit geht, ihrer Strukturen, ihrer Personen, ihrer Möglichkeiten und verpassten Chancen.
Hier könnten Repräsentanten des Judentums tatsächlich als Zeugen, ja geradezu als Kronzeugen des Verhängnisses – nicht der Tragik – einer in sich zerrissenen Persönlichkeit, eines ambivalent christlichen Erneuerers und eines – leider doch allzu eindeutig – frühnationalistischen deutschen Denkers auftreten; als Kronzeugen, die aus eigener Perspektive darlegen können, wo diese für die deutsche Kultur doch so nachhaltig wirkende Persönlichkeit nicht nur dem christlichen Liebesgebot offen und programmatisch zuwidergehandelt hat – Luther sprach gerne von »strenger Barmherzigkeit« gegenüber den Juden –, sondern auch als Zeugen dafür, wie aus der Sehnsucht nach göttlicher Gnade unversöhnlicher irdischer Hass wurde.
Wenn also im Lutherjahr strikt zwischen »Gedenken«, bei dem Juden nichts zu suchen haben, und »kritischer Erinnerung« unterschieden wird, spricht alles für eine jüdische Teilnahme an diesem Prozess kritischer Erinnerung.
Ob und wie jedoch die lutherischen Kirchen der Opfer dieses Mannes und seiner Theologie gedenken wollen, muss ihnen überlassen bleiben.
Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und Publizist.