Analyse

Kristallnacht, Reichspogromnacht, Novemberpogrome?

Passanten stehen im November 1938 in einer Stadt in Deutschland vor einem juedischen Geschaeft, dessen Schaufensterscheiben in der Reichskristallnacht am 9. Nov. 1938 zerstoert wurden. In Deutschland wird am 9. November der Reichspogromnacht gedacht. (AP Photo) ** zu unserem Korr ** --A group of people stand outside a Jewish-owned shop in an unnamed German town in November 1938, after the Kristallnacht, when Nazis thugs burned and plundered hundreds of Jewish homes, shops and synagogues across the country. November 9th is regarded a historic faithful day in Germany as on the same day in 1918 monarchy in Germany was overthrown, in 1939 it heralded the Holocaust and in 1989 it marked the fall of the Berlin Wall which resulted in the German reunification after 28 years of division. (AP Photos) | Foto: Verfügbar für Kunden mit Rechnungsadresse in Deutschland und Österreich. !

Es begann am 7. November mit antijüdischen Ausschreitungen auf lokaler Ebene, die am 8. und 9. November fortgeführt wurden, bevor am Abend des 9. November die NS-Führung zu landesweiten Verbrechen aufrief.

Was folgte, waren Mordakte, Verschleppungen in Konzentrationslager, Brandstiftungen von Synagogen, Verwüstungen und Plünderungen von Läden und Wohnungen, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Verhöhnungen und Demütigungen. In zeitgenössischen NS-Dokumenten finden sich Begriffe wie »Judenaktion«, Vergeltungsaktion« oder »Rathaktion« – bezogen auf Ernst vom Rath, dessen Erschießung durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan zum Anlass für die Verbrechen genommen worden war.

In der frühen Nachkriegszeit gab es den Ausdruck »Tag der deutschen Scherbe«, aber auch schon 1946 »Reichskristallwoche«; später wird »Reichskristallnacht« der häufigste und gebräuchliche Begriff.

VOLKSMUND Die Herkunft des Begriffes ist ungeklärt. Belegt ist seine Verwendung schon 1939 auch von Täterseite, und dies in eindeutig spöttisch-verhöhnender Form. Häufig wird er dem Berliner Volksmund zugesprochen, und so ist es nicht die Übernahme eines nur vermeintlichen Nazi-Terminus, sondern sind es die verharmlosenden Konnotationen, die ihn in Misskredit brachten.

Ohne eine Distanzierung in Form von gesprochenen oder geschriebenen Anführungsstrichen wird er daher kaum noch verwendet. Doch die Wortschöpfung »Reichspogromnacht«, seit den 80er-Jahren geprägt im Bemühen um politische Korrektheit und um eben der Verharmlosung aus dem Weg zu gehen, scheint mir künstlich.

»Reich-«, so kann man zwar argumentieren, benennt das zentral angeordnete und landesweite Geschehen. Doch diese monströse Vorsilbe, die so vielen Termini des NS-Staates vorangestellt war, in einem heutigen, eigens geschaffenen Begriff? Und wenn schon ein neuer Begriff, wieso dann weiter von einer »Nacht« reden, wo es sich doch, was Historiker immer mehr betonen, um mehrere Tage handelte, an denen Tag und Nacht die oben gelisteten Gräueltaten verübt wurden? Der Terminus »Pogrom« ist jedoch in vielem passend. Er ist schon in zeitgenössischen Quellen zu finden, auf jüdischer Seite, aber auch in der ausländischen Presse.

ZUSAMMENSPIEL Jedoch ist der Einwand von manchen Historikern beachtenswert, der Terminus bezeichne historisch eher spontane und meist regional begrenzte Gewaltausbrüche gegen Juden, nicht unbedingt staatlich organisierte. Im November 1938 hingegen handelte es sich um ein Zusammenspiel verschiedener Ebenen: um eine Steuerung und Manipulation von oben, aber auch um eine Initiative auf lokaler Parteiebene, eine aktive Beteiligung seitens Firmen-Belegschaften bis hin zu Schulklassen. Es handelte sich um ein Mitmachen, Anfeuern, Zuschauen und Gleichgültigkeit durch Teile der Bevölkerung. Dabei fand alles, bis auf die Plünderungen, auf Betreiben, mit Unterstützung und Billigung der obersten Machthaber statt.

Gegen den Terminus »Pogrom« spricht auch, dass es sich dabei um ein singuläres Geschehen handeln kann, während der November 1938 ein Schritt im Vernichtungsprozess der deutschen und europäischen Juden war.

Gute Gründe sind es also, die die Macher der in diesen Tagen in der Topographie des Terrors eröffneten Ausstellung Kristallnacht dazu bewegen, in ihrem Untertitel bewusst vom Antijüdischen Terror 1938 zu sprechen und ein Überdenken der bisherigen Bezeichnungen anzuregen. »Terror« freilich kann von Einzelnen ausgehen, der Begriff benennt wenig die staatliche Lenkung und scheint auch damit nicht wirklich zu treffen.

HILFSKONSTRUKTIONEN Doch wie wichtig ist ein möglichst treffender Begriff? Kann es einen angemessenen Ausdruck geben, oder handelt es sich nicht ohnehin um Hilfskonstruktionen? »Leil HaBdolach«, das ins Hebräische übersetzte »Kristallnacht«, ist der in Israel gebräuchliche Terminus, heute meist in Anführungsstrichen und auch in Verbindung mit »Pogrom« benutzt.

Meines Erachtens geht es eher darum – nicht anders als bei den Begriffen »Holocaust« und »Schoa« –, dass die Inhalte jeder Generation neu vermittelt, die Geschichten der Jüdinnen und Juden erzählt werden, ebenso die Motive und Taten der Täter. Empathie und Wissen, Lernen und Konsequenzen – die Intention ist bei jeglicher Benennung das Entscheidende, nicht der Terminus an sich.

So werde ich, sofern kein anderer überzeugenderer Begriff vorgeschlagen wird, weiter von den Novemberpogromen von 1938 im Plural reden und schreiben, und dabei möglichst die genauen Implikationen benennen, die staatliche Initiative, die Beteiligung auf verschiedenen Ebenen, die diversen monströsen Verbrechensakte und Barbareien an mehreren Tagen – und dass dies der Auftakt der systematischen Ermordung war.

Die Autorin ist Direktorin der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

Kommentar

Harte Haltung gegen die Hamas

Dass US-Präsident Donald Trump sich mit freigelassenen Geiseln traf, ist mehr, als große Teile der israelischen Regierung tun

von Sabine Brandes  06.03.2025

Berichterstattung

Der mutige Kampf von Sarah Maria Sander

Die Reporterin Sarah Maria Sander wird bedroht. Der Grund: Sie berichtete über den Terror der Hisbollah in Nord-Israel

von Glenn Trahmann  06.03.2025

Ehrung

Margot Friedländer erhält Preis des Westfälischen Friedens

Der westliche Zusammenhalt bröckelt - eine prominent besetzte Konferenz in Münster knüpft an den Westfälischen Frieden an und berät über Kriege, Konflikte und Frieden. Einen Sonderpreis bekommt eine beeindruckende Frau

von Nicola Trenz  06.03.2025

Mannheim

»Bin kein Held. Ich bin ein Muslim«

Bei der tödlichen Fahrt am Rosenmontag spielte ein Taxifahrer eine entscheidende Rolle: Er hinderte den 40-Jährigen an der Weiterfahrt. Nun erzählt er, was ihn dazu bewegt hat

 06.03.2025

Justiz

Ist der Begriff »Prostitutionslobby« antisemitisch?

Ein Urteil des Landgerichts Berlin sorgt für Gesprächsstoff: Befürworter eines Sexkaufverbots verklagten eine Aktivistin, weil diese sie »strukturell antisemitisch« genannt hatte

von Michael Thaidigsmann  06.03.2025

Washington

»Das ist die letzte Warnung«

US-Präsident Trump: »Ich schicke Israel alles, was es braucht, um die Sache zu Ende zu bringen. Kein einziges Hamas-Mitglied wird sicher sein, wenn Ihr nicht tut, was ich sage«

 05.03.2025

Krieg

US-Regierung führt direkte Gespräche mit Hamas

Die Sprecherin des Weißen Hauses bestätigt den Kontakt. Laut der Hamas geht es um amerikanische Geiseln und eine mögliche Vereinbarung zur Beendigung des Gaza-Kriegs

von Luzia Geier  05.03.2025

Reaktionen

Augen auf Berlin

Wie man in Israel und der jüdischen Welt den Ausgang der Bundestagswahl bewertet

von Michael Thaidigsmann  05.03.2025

Debatte

Regierung distanziert sich von Gaza-Aussage des Beauftragten Klein

US-Präsident Trump hat mit Blick auf den Gazastreifen von einer Umsiedlung gesprochen. Der Antisemitismusbeauftragte Klein meint, es lohne sich, über die Pläne nachzudenken. Die Bundesregierung sieht das jedoch anders

 05.03.2025