Die inzwischen bundesweit weit über 2000 Ermittlungsverfahren im Kontext des Nahost-Konflikts stellen Polizei und Justiz in Deutschland vor große Herausforderungen. Das liegt auch daran, dass die Strafbarkeit einzelner Parolen, die bei Demonstrationen zu hören oder auf Transparenten zu lesen sind, nicht überall gleich bewertet wird.
Wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in den Justizministerien der Länder ergab, wurde seit dem terroristischen Überfall der Hamas in Israel am 7. Oktober in einigen Dutzend Fällen mit Bezug zum Nahost-Konflikt Anklage erhoben beziehungsweise ein Strafbefehl beantragt. Rechtskräftige Verurteilungen liegen bisher nur vereinzelt vor.
In Berlin wurden nach Angaben der Strafverfolgungsbehörden insgesamt drei Angeklagte zu Geldstrafen verurteilt. Ein Demonstrant erhielt im November unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eine Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung. In Berlin, wo es in den vergangenen Monaten besonders viele propalästinensische Protestaktionen gab, stehen die meisten der mehr als 1200 Ermittlungsverfahren aber nicht in Zusammenhang mit Demonstrationen, sondern betreffen Äußerungen in sozialen Medien.
Die Zentralstelle Staatsschutz der Generalstaatsanwaltschaft in Hamburg hat zwischen dem 12. Oktober 2023 und dem 28. Mai insgesamt 349 Ermittlungsverfahren mit Nahost-Bezug bearbeitet. Der Anteil der von der Zentralstelle als antisemitisch eingestuften Taten betrage circa 35 Prozent, teilte die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaften, Mia Sperling-Karstens, auf Anfrage mit. Sie wies allerdings darauf hin, dass sich diese Bewertung im Zuge der Ermittlungen noch ändern könne. In ihrer schriftlichen Antwort hielt sie fest: »Zudem ist die Abgrenzung zwischen (rein) israelkritischer oder -feindlicher und (auch) antisemitischer Tatmotivation gelegentlich schwierig.«
Viele Äußerungsdelikte
Insgesamt geht es bei der Mehrheit der Verfahren, die im Kontext mit dem Hamas-Überfall und dem Gaza-Krieg stehen, um Volksverhetzung, die Billigung von Straftaten sowie das Verbreiten von Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen. In einigen Fällen wird wegen des Zerstörens israelischer Flaggen ermittelt. In Rheinland-Pfalz wurde bislang in sieben Verfahren Anklage erhoben oder der Erlass eines Strafbefehls beantragt. Dabei ging es teilweise um Äußerungen mit Bezug zu Nationalsozialismus und Holocaust. In Nordrhein-Westfalen und Brandenburg werden Verfahren mit Bezug zum Nahost-Konflikt nicht statistisch erfasst.
Insbesondere der auch von vielen protestierenden Studierenden genutzte Slogan »From the river to the sea - Palestine will be free« (Vom Fluss - gemeint ist der Jordan - bis zum Meer - bezogen auf das Mittelmeer - wird Palästina frei sein), bietet Anlass für Kontroversen. Geografisch umfasst das darin umrissene Gebiet den Staat Israel, das Westjordanland, in dem Palästinenser und jüdische Siedler leben, sowie den Gazastreifen.
In Bayern, wo vom 7. Oktober 2023 bis etwa Ende April 238 Ermittlungsverfahren »im Kontext des Israel-Hamas-Kriegs« eingeleitet wurden, beruft sich die Generalstaatsanwaltschaft auf das Anfang November von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ausgesprochene Betätigungsverbot für die islamistische Palästinenser-Organisation Hamas und sieht dadurch alle Fragezeichen ausgeräumt.
Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft München führt aus: »Spätestens seit diesem Zeitpunkt bejahen die bayerischen Strafverfolgungsbehörden den Anfangsverdacht einer Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.« Das öffentliche Verwenden dieser Parole stehe damit unter Strafe. Diese Vorschrift setze grundsätzlich keinen besonderen Zusammenhang bei ihrer Verwendung voraus.
»From the river to the sea«: Verboten! Oder nicht?
In der Verbotsverfügung, die unter dem Eindruck der Tötung von mehr als 1200 Menschen und der Verschleppung von mehr als 250 Geiseln durch Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen entstanden war, heißt es, das Verbot erstrecke sich auch auf die Parole »Vom Fluss bis zum Meer«. Ob das Bestand haben wird, muss sich noch erweisen.
Das Oberverwaltungsgericht von NRW entschied im Dezember zu einer Protestkundgebung in Düsseldorf. In seinem Beschluss hieß es, ohne weitere Sachverhaltsaufklärung seitens des Gerichts, die in der Kürze der Zeit nicht zu leisten sei, bleibe »offen, ob es sich bei der Parole »From the river to the sea« oder Abwandlungen hierzu um ein verbotenes Kennzeichen der Hamas handelt«.
Das Landgericht Mannheim stellte in einem Beschluss vor einigen Tagen grundsätzlich infrage, ob der Slogan, der sich auf das Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer bezieht, als Kennzeichen der Hamas gelten kann. In deren Charta von 2017 finde sich nur die Formulierung »Die Hamas lehnt jede Alternative zur vollständigen und uneingeschränkten Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer ab«. Auch deute die von Anhängern verschiedener Gruppierungen und Ideologien genutzte Parole »nicht zwingend darauf hin, dass Israel damit vernichtet würde, sondern nimmt insoweit nur das historische Gebiet von Palästina (Mandatsgebiet Palästina), das unabhängig von seiner politischen Zugehörigkeit für die Palästinenser Referenzpunkt ihrer historischen Heimat ist, in Bezug«. Der Fall, um den es in diesem Verfahren ging, bezog sich auf eine Kundgebung im Mai 2023.
Herausforderungen für die Polizei
Für Polizisten, die bei Demonstrationen entscheiden müssten, ob sie einschreiten müssen oder nicht, entstehe durch diese Entscheidung aus Mannheim auf jeden Fall »ein Mehraufwand«, sagt Jens Mohrherr von der Gewerkschaft der Polizei. Schon die unterschiedlichen Versammlungsgesetze der Bundesländer seien eine Herausforderung.
Das Bundesinnenministerium bleibt derweil bei seiner Auffassung, der Ausspruch versinnbildliche das von der EU-weit als Terrororganisation eingestuften Hamas proklamierte Ziel eines palästinensischen Staates um jeden Preis. »Dieses Ziel der Hamas setzt die Vernichtung des Staates Israel denklogisch voraus«, sagte ein Sprecher. Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet der Hamas hierzulande etwa 450 Anhänger zu.
Islamistische Gruppen wie Muslim Interaktiv, die sich zuletzt in Essen und Hamburg versammelt hatten, seien getrennt von den propalästinensischen Demonstrationen zu betrachten, sagt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang. Diese Islamisten benutzen zwar den Gaza-Krieg, um ihr Narrativ vom »ungläubigen Westen, der angeblich die Muslime unterdrücken und zur Assimilation zwingen will«, zu verbreiten.
Der Nahost-Konflikt sei dabei aber nur Mittel zum Zweck. Im Vordergrund stehe, »die eigene archaische Interpretation des Islam zu verbreiten«. Die Mehrheit der Teilnehmer propalästinensischer Demonstrationen seien keine Extremisten. Bei einem Teil der Demonstranten sei jedoch ein Schulterschluss von Extremisten verschiedener Couleur zu beobachten, dazu gehörten Islamisten, deutsche und türkische Links- und Rechtsextremisten sowie Anhänger extremistischer säkularer palästinensischer Organisationen.