Wenn am kommenden Sonntag der elfte Bundespräsident gewählt wird, tun wir gut daran, an den ersten Amtsinhaber zu erinnern. Theodor Heuss, im September 1949 angetreten, war ein großer Glücksfall für die junge Bundesrepublik. Denn er hat damals mit Erfolg uns Westdeutschen die Demokratie nicht nur schmackhaft, sondern auch glaubhaft gemacht.
Heuss hat das höchste Amt des Staates häufig als eine »pouvoir neutre«, als neutrale Kraft, bezeichnet. In diesem Sinne hat er zahlreiche Initiativen auf den Weg gebracht und damit unter anderem einen Ausschuss für das Erziehungswesen, den Wissenschaftsrat und Parteienreformen angeregt. Er hat – im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger – diese »neutrale Kraft« sehr umfassend und intensiv genutzt.
Widerstand An dieser Stelle seien noch zwei Bundespräsidenten genannt, denen meiner Meinung nach ebenfalls ein Platz in unseren Geschichtsbüchern gebührt: Gustav Heinemann, Sozialdemokrat, der im Dritten Reich politischen Widerstand geleistet hat und ein überaus glaubwürdiger Bundespräsident war.
Und Richard von Weizsäcker, der 1985, am 40. Jahrestag des Kriegsendes, den Deutschen in einer wunderbar strukturierten und erhellenden Rede deutlich gemacht hat, dass die Verantwortung für die Gräueltaten der Nazis im Bewusstsein bleiben muss.
Im Großen und Ganzen hat jeder der zehn Bundespräsidenten diese »pouvoir neutre« gestaltet. Doch die beiden letzten Staatsoberhäupter haben das Amt – und auch das Wahlverfahren – sehr infrage gestellt. Aus dieser Erfahrung ergibt sich geradezu eine Verpflichtung, das Verfahren zu überdenken – und es aus den Fängen parteipolitischer Zwänge zu befreien.
Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, also Mitglieder des Bundestages und der Entsandten der Länder, ist eine Konsequenz aus den negativen Erfahrungen der Weimarer Demokratie: Reichspräsident von Hindenburg als Schreckgespenst. Aber ich glaube, die Zeit hat gezeigt, dass wir durchaus imstande sind, ein Oberhaupt zu wählen. Das sollten wir uns zutrauen. Womöglich könnten zumindest teilweise auch die Bürgerinnen und Bürger in dieses Auswahlverfahren mit einbezogen werden. Alle unsere Nachbarn, soweit es keine Monarchien sind, lassen das Volk wählen.
Druck Auf jeden Fall müssen das Amt und das Wahlverfahren dem unmittelbaren Kalkül der Parteien entzogen werden. Ich habe selbst die Ehre und Last gehabt, 1994 von der FDP für das Amt des Staatsoberhauptes aufgestellt zu werden. Und habe die neun Monate meiner Kandidatur vor allem in Parteienstreitigkeiten erlebt.
Zudem war es damals beinahe unvorstellbar, dass eine Frau dieses Amt ausüben könnte. Ich war entsetzt über den innenpolitischen Druck, der auf mich ausgeübt wurde. Das spricht dafür, den Einfluss der Parteien auf Auswahl und Tätigkeit eines künftigen Bundespräsidenten zu verringern.
Nun gibt es für die Wahl am kommenden Sonntag zwei Kandidaten. Von der zeitgeschichtlichen Dimension sind es höchst interessante, wichtige und zum Nachdenken anregende Bewerber: Joachim Gauck wegen seines politischen Werdegangs in einer Diktatur, der eine wichtige Ermutigung ist in der ihm eigenen leidenschaftlichen Freude über Demokratie, Freiheit und Verantwortung. Und Beate Klarsfeld, die in Erinnerung ruft, wie wenig erfolgreich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die Aufarbeitung der Vergangenheit betrieben wurde.
Inspiration Ich habe schon mehrfach betont, dass ich Christian Wulff stets für einen ungeeigneten Bundespräsidenten gehalten habe, entsprechend hatte ich mich schon seinerzeit sehr für Gauck engagiert. Das tue ich auch jetzt wieder. Er ist eine inspirierende Persönlichkeit. Theodor Heuss hat immer betont, dass ein Bundespräsident »ermutigen und warnen« muss. Das wird Gauck in hohem Maße tun.
Ich denke, dass er die notwendigen Initiativen ergreifen wird, gegen die Verdrossenheit der Menschen, die Entfremdung zwischen Parteien und Bürgergesellschaft. Dass er offensichtliche Missstände anprangern wird, wie das Thema der Bund-Länder-Verfassung, insbesondere in Schul- und Hochschulfragen. Auch die Frage der bürgerschaftlichen Mitwirkungsrechte wird ein wichtiges Thema sein.
Er hat viel zu tun in den kommenden fünf Jahren. Dabei wird es auch wichtig sein, dass er von den Bürgern unterstützt wird, dass ihn die Parteien nicht entmutigen und ihm »den Schneid abkaufen«. Das darf er nicht mit sich geschehen lassen. Ein Bundespräsident darf keine Parteipolitik betreiben, sondern er muss für eine Demokratiepolitik stehen.
Er muss den Zustand und die Verfassung unseres Gemeinwesens als Lebensform neu überdenken und neue Initiativen entwickeln. Das wäre meine Idealvorstellung von unserem Bundespräsidenten.
Die Autorin war von 1976 bis 1982 Staatsministerin im Auswärtigen Amt und kandidierte 1994 für das Bundespräsidentenamt.